Dramatische/tragische Ironie

Dramatische/tragische Ironie: Wissensvorsprung des Zuschauers vor der Dramenfigur.
Von C. Thirlwall geprägter Begriff für die Differenz zwischen Figuren- und Zuschauerwissen, die einerseits aus dem Vorwissen des Zuschauers über Stoff und Gattungskonvention, andererseits aus der Perspektivgebundenheit der Figuren resultiert. Denn während der Zuschauer alle Szenen eines Dramas sieht und die
Dialoge
Dialog
Wechselrede der Figuren, das Gespräch im Drama.
aller Figuren verfolgt, kennt die Figur jeweils nur das Geschehen, an dem sie selbst teilhat. Der Zuschauer kann so die
Intrige
Intrige
Das eine Handlung konstituierende Komplott.
in ihrer Entstehung und Ausführung beobachten, während die Figur den Ereignissen, in die sie verstrickt ist, erst Sinn zuschreiben muss. Deshalb kommt es während des Handlungsverlaufs zu im engeren Sinne ironischen Momenten, z.B. wenn eine für die Figur offene Bemerkung für das Publikum die Funktion einer Vorausdeutung annimmt.
Gerade im analytischen Drama kommt es immer wieder zum Auseinanderklaffen der beiden Sichtweisen, da die Zuschauer den Sachverhalt, den die Figuren im Drama erst noch enthüllen müssen, meist schon kennen. Dies wird umso eklatanter, je bekannter der Stoff des Dramas ist. Bei einem mythischen Stoff wie Sophokles’ König Ödipus weiß der Zuschauer um die Handlung und ihre bedingenden Faktoren und deshalb auch darum, dass sich Ödipus am Anfang selbst verurteilt, wohingegen die Figuren die ursprüngliche Konstellation erst noch aufklären müssen.
Erläuterung:
Hier lesen Sie einen Ausschnitt der Vorszene von Sophokles’ König Ödipus. Wir wissen längst, dass er selbst der Mörder des „alten Königs“ war, er jedoch will sich erst noch auf die Suche nach diesem Mörder machen:
Textbeispiel:
ÖDIPUS. Von Grund auf werde diese Nacht zerstreut!
Apollon hat uns heut, und du mit ihm,
Mit Fug und Recht an jenen Mord gemahnt;
Als Dritter kämpf ich selber für dies Land
An deiner Seite, im Gefolg des Gotts.
Ich streite nicht für Fremde, treibe nur
Den Greul fort von meinem eignen Haupt:
Denn wer den alten König schlug, erhebt
Wohl bald die gleiche Mordhand gegen mich,
Und wenn ich jenem diene, dien ich mir.
So steht nun schnell von den Altären auf,
Ihr Lieben! Nehmt die frommen Zweige mit!
Und einer rufe mir den Rat der Stadt!
Fest steht mein Wille; siegen müssen wir
Mit Phoibos’ Hilfe, oder untergehn.
Sophokles: König Ödipus
Fragestellung:
Beschreiben Sie die Perspektive einer Dramenfigur auf das Geschehen im Drama im Gegensatz zur Zuschauerperspektive darauf. Markieren Sie dabei Differenzen des Wissens.
Textbeispiel:
:
Ihre Formulierung:
Figur in den Zusammenhang der Handlung verstrickt, kein Überblick über Geschehen, an dem sie nicht direkt teil hat, kein Wissen um Szenen, während derer sie nicht auf der Bühne ist, ggf. nur teilweise Einsicht in Befindlichkeiten anderer Figuren, teilt nicht deren Vorwissen, wie es z.B. in Monologen mitgeteilt wird, weniger Einsicht in Intrigen und Komplotte.
Zuschauer hat Möglichkeiten der Vorinformation (Schauspielführer, Programmheft, Inhaltsangabe etc.) bzw. Vorwissen über den Stoff, sieht alle Szenen und kann entsprechende Verbindungen herstellen. Muss aber andererseits über Zusammenhänge und (natürlich fiktive!) vergangene Ereignisse erst aufgeklärt werden.

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Dramatische/tragische Ironie
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