Textbeispiel:
Die Sonne neigte sich bereits zum Untergang, als Agathon, der sich in
einem unwegsamen Walde verirret hatte, von der vergeblichen Bemühung einen
Ausgang zu finden abgemattet, an dem Fuß eines Berges anlangte, welchen er noch
zu ersteigen wünschte, in Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend einen
bewohnten Ort zu entdecken, wo er die Nacht zubringen könnte. Er schleppte sich
also mit Mühe durch einen Fußweg hinauf, den er zwischen den Gesträuchen gewahr
ward; allein da er ungefähr die Mitte des Berges erreicht hatte, fühlt er sich
so entkräftet, daß er den Mut verlor den Gipfel erreichen zu können, der sich
immer weiter von ihm zu entfernen schien, je mehr er ihm näher kam. Er warf sich
also ganz Atemlos unter einen Baum hin, der eine kleine Terrasse umschaltete,
auf welcher er die einbrechende Nacht zuzubringen beschloß.
Wenn sich jemals ein Mensch in Umständen befunden hatte, die man
unglücklich nennen kann, so war es dieser Jüngling in denjenigen, worin wir ihn
das erstemal mit unsern Lesern bekannt machen. Vor wenigen Tagen noch ein
Günstling des Glücks, und der Gegenstand des Neides seiner Mitbürger, befand er
sich, durch einen plötzlichen Wechsel seines Vermögens, seiner Freunde, seines
Vaterlands beraubt, allen Zufällen des widrigen Glücks, und selbst der
Ungewißheit ausgesetzt, wie er das nackte Leben, das ihm allein übrig gelassen
war, erhalten möchte. Allein ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten, die sich
vereinigten seinen Mut niederzuschlagen, versichert uns doch die Geschichte, daß
derjenige, der ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, weder in seiner Mine noch
in seinen Gebärden einige Spur von Verzweiflung, Ungeduld oder nur von
Mißvergnügen hätte bemerken können.
Christoph Martin Wieland: Geschichte des Agathon
Erläuterung:
In der vorliegenden Passage haben wir es mit einem heterodiegetischen
Erzähler zu tun, der nicht Teil der erzählten Welt ist. Man kann das im ersten
Abschnitt daran erkennen, dass nur von Agathon die Rede ist, der sich im Wald
verirrt hat. Die Stimme, die das erzählt, gehört also wahrscheinlich nicht zur
erzählten Welt. In der zweiten Passage wird dann ganz deutlich, dass es hier
einen allwissenden Erzähler gibt, der über und außerhalb des Geschehens steht
und dieses kommentiert.