Textbeispiel:
         Der Schneider, als er so ganz einsam in seinem Hause saß, verfiel in große
            Traurigkeit, und hätte seine Söhne gerne wieder gehabt, aber niemand wußte wo
            sie hingeraten waren. Der älteste
            war zu einem Schreiner in die Lehre
            gegangen, da lernte er fleißig und unverdrossen, und als seine Zeit herum war,
            daß er wandern sollte, schenkte ihm der Meister ein Tischchen, das gar kein besonderes Ansehen hatte,
            und von gewöhnlichem Holz war, aber es hatte eine gute Eigenschaft. [...] Der
            junge Gesell dachte „damit hast du
            genug für dein Lebtag“, zog guter Dinge in der Welt umher, und bekümmerte sich
            gar nicht darum ob ein Wirtshaus gut oder schlecht und ob etwas darin zu finden
            war oder nicht. [...] Endlich kam es ihm in den Sinn, er wollte zu seinem Vater
            zurückkehren, sein Zorn würde sich gelegt haben, und mit dem Tischchen deck dich
            würde er ihn gerne wieder aufnehmen. Es trug sich zu, daß er auf dem Heimweg
            Abends in ein Wirtshaus kam, das mit Gästen angefüllt war; sie hießen ihn
            willkommen, und luden ihn ein sich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu essen,
            sonst würde er schwerlich noch etwas bekommen. „Nein“, antwortete der Schreiner, „die paar Bissen will ich
            euch nicht von dem Munde nehmen, lieber sollt ihr meine Gäste sein.“
         Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen
       
      
         Erläuterung:
         Ginge man in diesem Text nur von den Bezeichnungen für Figuren im Discours
            aus, dann müsste man annehmen, dass der ‚Schreiner’, der zuerst genannt wird,
            und der zweitgenannte ‚Schreiner’ identisch sind.
         Gleich mehrere Gründe sprechen aber gegen eine solche Verwechslung. Zum
            einen der Wechsel des 
            
               contextual frames
               
                  Contextual Frames
Begriff von Catherine Emmott (Catherine Emmott 1997, S. 132). Bezeichnet eine Sinnstruktur,
                     die durch eine örtliche (wer und was ist an diesem Ort anwesend?), eine zeitliche
                     und durch eine relativ freie episodische Komponente (was ist an dem Ort geschehen)
                     gebildet wird. Dieses Geschehen kann wiederum durch typische Handlungsabläufe (scripts),
                     z.B. Restaurantbesuch, und zusammengehörige Informationssets (frames), z.B. Wirtshaus,
                     organisiert sein, und in nicht-situativem Text wird u.a. Information solcher Art präsentiert.
                
             . Der Schreiner,
            bei dem der älteste Sohn zur Lehre ging, ist nur in den ersten Rahmen gebunden.
            Zwischen den beiden situativen Rahmen befindet sich nicht-situativer Text, der
            den ältesten Sohn fokussiert. In den zweiten situativen Rahmen, das Wirtshaus,
            sind anfangs wiederum nur zwei Figuren gebunden, nämlich die Kollektivfigur
            ‚Gäste’ und ‚er’, der dann ‚der Schreiner’ genannt wird. Da bis dahin der
            älteste Sohn fokussiert wurde, ist es naheliegend, dass dies im Zweifelsfall
            weiterhin geschieht.
 
         Auch das Skript-Wissen des Modell-Lesers spricht dafür. Da die Gäste
            gerade ihre Essenseinladung geäußert haben, ist es naheliegend, dass nach den
            Regeln des verschriftlichten Dialogs nun die Antwort der einzig sonst
            vorhandenen Figur folgt, also des ältesten Sohns. Das sprachliche Signal des
            bestimmten Artikels ‚der Schreiner’
            legt auch nahe, dass an dieser Stelle keine neue Figur eingeführt
            wird.
         Eine Verwechslung ist außerdem unwahrscheinlich weil die Figur, die als
            ‚der älteste’ eingeführt und zwischendurch auch als ‚Gesell’ bezeichnet wurde,
            nun als ‚Schreiner’ angesprochen werden kann, d.h. es gibt zwei Schreiner in der erzählten Welt.
            Allerdings muss der Leser dazu wissen, dass die Formulierung ‚in die Lehre
            gehen’ eine spezifische Form der Ausbildung in Handwerksberufen bezeichnet und
            mit dem Zeitpunkt ‚als seine Zeit herum war, daß er wandern sollte’ ein formaler
            Abschluss dieser Ausbildung erreicht ist, die den Auszubildenden zum Gesellen,
            in diesem Fall zum Schreinergesellen macht. Die Verwechslung zwischen den beiden
            als ‚Schreiner’ bezeichneten Figuren ist also unwahrscheinlich, weil gleiche
            mehrere unabhängige Indizien eine schnelle Identifizierung der Referenz
            ermöglichen. 
         Schon an diesem relativ einfachen Märchen zeigt sich, dass vom
            Modell-Leser nicht nur verlangt wird, die Figuren einfach zu unterscheiden,
            sondern auch die Merkmale der Figur zu erinnern und bei Bedarf zusammen mit
            seinem Weltwissen, im Beispiel das über typisierte Handlungsabläufe (Dialog,
            Lehre), zu Schlussfolgerungen zu nutzen.