Lyrik als Gattung: Diejenige literarische Gattung, die alle Gedichte umfasst. Jedes Gedicht hat per definitionem
die folgenden beiden Eigenschaften:
Es ist eine mündliche oder schriftliche Rede in Versen, ist also durch zusätzliche
Pausen bzw. Zeilenbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungsform
der Alltagssprache abgehoben.
Es ist kein Rollenspiel, also nicht auf szenische Aufführung hin angelegt.
Diese beiden für ein Gedicht notwendigen Eigenschaften präzisieren das heute vorherrschende
Verständnis des Begriffs; sie umfassen den weit überwiegenden Teil der uns aus der
abendländischen Tradition überlieferten, heute als Gedichte angesehenen Texte. Zugleich
ergeben die beiden Kriterien eine eher dürre „Minimaldefinition“ (Lamping 1989: 79
u. ö.), die der ganzen Fülle der historischen Erscheinungsformen lyrischer Texte kaum
gerecht wird.
Es treten also eine ganze Reihe von Eigenschaften hinzu, von denen zwar einige auf
viele oder sogar die meisten Gedichte zutreffen, keineswegs aber alle bei jedem Gedicht
zu beobachten sind, beispielsweise
über die Versform hinausgehende grammatische Abweichungen von der Alltagssprache,
vor alle, Reim und Metrum, aber auch weitere klangliche Besonderheiten (Lautmalerei),
Verformungen der Wortgestalt, unübliche Wortstellung (Inversion) und viele andere;
die relative Kürze des Textes und die Konzisheit des sprachlichen Ausdrucks;
die Selbstreflexivität des Textes und der einzelnen in ihm gebrauchten sprachlichen
Zeichen, die Thematisierung der Dichtung im Gedicht selbst;
die unvermittelte, strukturell einfache Redesituation, die Nähe des im Gedicht Sprechenden
zum Autor oder zur Autorin;
die unmittelbare Ansprache des Lesenden, Direktheit der literarischen Kommunikation,
strukturelle Dominanz der Personalpronomina, besonders derjenigen der ersten und zweiten
Person;
ein besonders verdichteter, durch Wiederholungen (Leitmotive) und gezielte Variationen
gekennzeichneter Wortgebrauch und eine große Bedeutung der Bildlichkeit (Metapher,
Allegorie, Symbol);
die Sangbarkeit des Textes, der liedartige Charakter, die Nähe zur Musik.Die Liste dieser (nicht notwendigen, sondern akzidentiellen) Merkmale ließe sich verlängern
und weiter ausdifferenzieren. (Burdorf 1995: 20)
Das folgende Beispiel (aus Lamping 1989: 53) ist reduziert auf Voraussetzungen wie
Verteilung des Textes auf Verszeilen und Funktionen des Zeilenbruchs – z.B. im Herausstellen
von Satzelementen in exponierten Positionen als Ansatzpunkten für Sinnsetzungen.
(a) Prosafassung im Athenäum:
Textbeispiel:
ahnden nicht, daß aus alten Geschichten du himmelöffnend entgegen trittst und den
Schlüssel trägst zu den Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender
Bote.
Friedrich von Hardenberg (gen. Novalis): 2. Hymne an die Nacht
Erläuterung:
(b) handschriftliche Versfassung:
Textbeispiel:
Ahnden nicht
Daß aus alten Geschichten
Du himmelöffnend entgegentrittst
Und den Schlüssel trägst
Zu den Wohnungen der Seligen
Unendlicher Geheimnisse
Schweigender Bote.
Friedrich von Hardenberg (gen. Novalis): 2. Hymne an die Nacht