Distanz

Distanz: Grad an Mittelbarkeit. Distanz ist eine Skala, an deren einem Ende die szenische Darstellung mit wörtlicher Rede (dramatischer Modus) und an deren anderem die vollständige Vermittlung der Geschichte durch einen in jeder Hinsicht präsenten Erzähler (narrativer Modus) liegt.
  1. In unmittelbaren Darstellungen im dramatischen Modus wird die Geschichte direkt und ohne einen sofort erkennbaren Erzähler präsentiert. Merkmale sind:
    • Das Fehlen jeglichen Kommentars bzw. von Reflexionen
    • Die Wahrnehmungsperspektive einer am Geschehen beteiligten Figur
    • Detailreichtum (Realitätseffekt)
    • Häufig Szenen
    In angelsächsischer Terminologie spricht man auch von ‚showing’.
    Textbeispiel:
    Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten "Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck" (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schilde) wurden Säcke, vom Hausflur her, auf einen mit zwei magern Schimmeln bespannten Bauerwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. Auf der Straße neben dem Wagen aber stand Abel Hradscheck selbst und sagte zu dem eben vom Rad her auf die Deichsel steigenden Knecht: „Und nun vorwärts, Jakob, und grüße mir Ölmüller Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Woche müßt ich das Öl haben, Leist in Wrietzen wartet schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so bestelle der Frau meinen Gruß und sei hübsch manierlich. Du weißt ja Bescheid. Und weißt auch, Kätzchen hält auf Komplimente.“
    Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (Beginn)
    Erläuterung:
    Das Geschäft von Abel Hradscheck und die Ereignisse vor dessen Eingang werden so beschrieben, dass man den Erzähler dabei fast völlig vergisst. Der Erzähler meldet sich auch nicht mit Kommentaren oder Überlegungen zu Wort. Es werden viele Details beschrieben, das Ganze erscheint vor unserem inneren Auge wie ein Film oder wie auf einer Bühne. Zu diesem Eindruck trägt auch die direkte Figurenrede am Schluss bei.
  2. Mittelbare Darstellungen im narrativen Modus werden von einer starken Erzählerpräsenz in Stimme und Perspektive bestimmt. Kennzeichen sind
    • Häufige Erzählerkommentare u. Reflexionen
    • In Stimme und Perspektive deutlich wahrnehmbare Erzählinstanz
    In angelsächsischer Terminologie spricht man auch von ‚telling’.
    Textbeispiel:
    Erstes Kapitel
    Solange der Mensch auf seiner Erde Geschichten hört oder dergleichen selber erzählt, teilt er sie gewöhnlich ein in solche, die gut anfangen und böse endigen, und solche, die schlimm beginnen, aber zu einem wünschenswerten Ende kommen. Darüber wäre nun manches zu sagen; denn so recht begriffen und ausgerechnet hat eigentlich noch keiner, wo bei den Geschichten dieser Erde der Anfang und wo das Ende ist, wo das Wünschenswerte beginnt und das Gegenteil davon endet, oder umgekehrt. Ich für mein Teil hüte mich wohl, mich hierüber des weitern auszulassen, ich halte mich einfach an des Menschen uralt hergebrachte Anordnung und Abfachung seiner Erlebnisse und seiner Schicksale und verkünde nur, zu eigener Erleichterung tief aufatmend, daß vorliegende Geschichte nach menschlichem Ermessen ziemlich gut ausgeht. Es war, um mitten in der unruhvollen Wirklichkeit im altgewohnten Märchenton zu beginnen, an einem trüben Sonntagmorgen im Spätherbst noch vor dem Kirchenglockengeläut.
    Wilhelm Raabe: Im alten Eisen (Beginn)
    Erläuterung:
    Hier wird eindeutig im narrativen Modus erzählt. Erkennbar wird das gleich zu Beginn, indem nämlich nicht eine Handlung oder die Beschreibung eines Schauplatzes an erster Stelle steht, sondern eine Reflexion über verschieden Arten von Geschichten. Der Erzähler ist dadurch stark präsent und spricht ja dann auch im dritten Satz in der ersten Person von sich. Selbst als die Geschichte mit dem letzten Satz beginnt, ist dies von einem Kommentar des Erzählers - „um mitten in der unruhvollen Wirklichkeit im altgewohnten Märchenton zu beginnen“ - begleitet.
Zwischen diesen Polen der Skala gibt es zahlreiche Übergangsformen. Je nachdem, ob Ereignisse, Worte oder Gedanken bzw. Bewusstseinsinhalte erzählt werden, weisen dramatischer und narrativer Modus jedoch bestimmte Unterschiede auf. Da im Bereich der Wiedergabe von Worten und Gedanken vor allem diejenigen Darstellungsweisen von besonderem Interesse sind, die zwischen rein dramatischem und rein narrativem Modus anzusiedeln sind, werden diese gesondert betrachtet.
Präsentation von Ereignissen
Präsentation von Worten
Präsentation von Gedanken

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