Späteres Erzählen: Der Zeitpunkt des Erzählens liegt erkennbar nach dem des Erzählten. Diese Verteilung
der Zeitverhältnisse zwischen dem Erzählen und dem Erzählten ist der Regelfall allen
Erzählens. Er wird durch Verwendung des Präteritum markiert.
Beim ‚Späteren Erzählen’ gibt es zwei Besonderheiten zu beachten:
Zum einen kann es vorkommen, dass es trotz der Verwendung des Präteritums nicht die
Hauptfunktion des Präteritums ist, darauf hinzuweisen, dass das Erzählte bereits vergangen
ist: Episches Präteritum
Zum anderen kann späteres Erzählen vorliegen, obwohl ein Text im Präsens geschrieben
ist: Historisches Präsenes
Episches Präteritum: Mit dem Begriff von Käte Hamburger wird ein Präteritum bezeichnet, mit dem aber weniger
die Vorzeitigkeit des Erzählten als vielmehr seine Zeitlosigkeit betont werden soll.
Es liegt vor, wenn ein späterer Zeitpunkt des Erzählens kaum bestimmbar oder irrelevant
ist.
Während im historischen Präteritum des Wirklichkeitsberichtes die ‚Ich-Origo’ in der
Gegenwart bleibt, wird das Orientierungszentrum im Epischen Präteritum distanzlos
an den Zeitpunkt des dargestellten Geschehens versetzt. Deshalb lassen sich mit dem
Epischen Präteritum in eigentlich kontextwidriger Weise auch Zeitadverbien der Gegenwart
und Zukunft verbinden.
Bsp.: „Morgen ging sein Flugzeug nach Hause.“
Historisches Präsens: Verwendung des Präsens nicht als Tempus der Darstellung von Gegenwart bzw. von zeitlosen
Sachverhalten, sondern als Erzähltempus – sei es als Wirklichkeitsbericht über vergangenes
Geschehen, sei es als Ersatz eines ‚Epischen Präteritums’ zur Vermittlung fiktionalen
Geschehens.
Bsp.: „Hier in Rußland begeht Napoleon nun den entscheidenden Fehler."
Im Allgemeinen ist jedoch die Nachzeitigkeit des Erzählens gegenüber dem Erzählten
erkennbar und relevant und drückt sich im Prätetitum aus.
Die Zeitspanne zwischen dem Erzählen und dem Erzählten kann zudem, muss aber keineswegs
genauer bestimmbar sein. Sie kann sich natürlich auch im Verlaufe von Erzählungen
verändern.
Typisch für späteres Erzählen ist sicherlich jede Art der Autobiographie, in der ein
Erzähler rückblickend sein Leben erzählt und damit auf einen späteren Zeitpunkt des
Erzählens gegenüber dem Erzählten fast verpflichtet wird.
Textbeispiel:
Es war im Jahr 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor
der Geschichte von sich; - und zwar in dem Monate, wo mit ihm noch die gelbe und graue
Bachstelze, das Rotkehlchen, der Kranich, der Rohrammer und mehre Schnepfen und Sumpfvögel
anlangten, nämlich im März; - und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine
Wiege zu streuen waren, gerade dazu das Scharbock- oder Löffelkraut und die Zitterpappel
in Blüte traten, desgleichen der Ackerehrenpreis oder Hühnerbißdarm, nämlich am 21ten
März; - und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am Morgen um 1½ Uhr;
was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen
Lenzes war.
Jean Paul: Selberlebensbeschreibung
Erläuterung:
So beginnt Jean Pauls Selberlebensbeschreibung aus dem Jahr 1819, in der dieser vom genau datierten Zeitpunkt seiner Geburt 56 Jahre
zuvor erzählt. Und in ähnlicher Weise erzählt die Ich-erzählende Titelfigur aus Grimmelshausens
Roman Simplicissimus von ihrer, freilich fiktiven Kindheit:
Textbeispiel:
Er [sein Vater] begabte mich mit der herrlichsten Dignität, so sich nicht allein bei
seiner Hofhaltung, sondern auch in der ganzen Welt befand, nämlich mit dem Hirtenamt:
Er vertraut' mir erstlich seine Säu, zweitens seine Ziegen, und zuletzt seine ganze
Herd Schaf [...].
Diese kurze Textpassage stammt aus Raymond Chandlers Kriminalerzählung The Big Sleep. Der ich-erzählende ‚Schnüffler’ ist im Laufe seiner Ermittlungen in eine fremde
Wohnung eingedrungen, in der ‚etwas nicht stimmt’. Er weiß nur noch nicht, was.Liegt hier also
Textbeispiel:
Something was wrong. Something on the air, a scent. The shades were down at the windows
and the street light leaking in at the sides made a dim light in the room. I stood
still and listened. The scent on the air was a perfume, a heavy cloying perfume.
Raymond Chandler: The Big Sleep
Das erlebende, erzählte Ich weiß nicht, was ihn in dieser Wohnung erwartet. Und das
erzählende Ich gibt dies auch nicht preis, um die krimitypische Spannung zu erhalten,
darf er das auch gar nicht. Beide Aspekte dieses ‚Ich’ sind somit eng miteinander
verknüpft, auch zeitlich. Dennoch gibt das erzählende Ich das Geschehen als vergangenes,
wenngleich ergebnisoffenes Geschehen wieder, es erzählt also von einem (etwas) späteren
Zeitpunkt aus - freilich ganz anders als der (pseudo-)autobiographische Ich-Erzähler,
der weiß und dies auch zeigt, was als Nächstes passieren wird.Das erlebende, erzählte Ich weiß nicht, was ihn in dieser Wohnung erwartet. Und das
erzählende Ich gibt dies auch nicht preis, um die krimitypische Spannung zu erhalten,
darf er das auch gar nicht. Beide Aspekte dieses ‚Ich’ sind somit eng miteinander
verknüpft, auch zeitlich. Dennoch gibt das erzählende Ich das Geschehen als vergangenes,
wenngleich ergebnisoffenes Geschehen wieder, es erzählt also von einem (etwas) späteren
Zeitpunkt aus - freilich ganz anders als der (pseudo-)autobiographische Ich-Erzähler,
der weiß und dies auch zeigt, was als Nächstes passieren wird.