Chor

Chor: Eine Gruppe von Sprechern im Drama, die nur als Kollektiv spricht
Im 6. Jh. v. Chr. entwickelte sich die antike Tragödie aus dem sog. Dithyrambus des Dionysoskultes, der aus Tanz, Musikbegleitung und Gruppengesang bestand. Aus dem letzteren entstand durch den Einschub von Sprechszenen eines einzelnen Schauspielers ein dramatischer
Dialog
Dialog
Wechselrede der Figuren, das Gespräch im Drama.
, aus dem sich mit der Einführung von
Protagonist
Protagonist
Zentrale Figur des Dramas.
und
Antagonist
Antagonist
Gegenspieler des Protagonisten, als Kontrast gegen diesen konzipiert und ihm in der Figurenkonstellation gegenübergestellt.
langsam die antike Tragödie entwickelte.
Zunächst spricht der Chor noch deutlich mit den Kennzeichen seiner kultischen Herkunft, also in lyrischen Versmaßen. Auf der Orchestra, einer Art Vorbühne, bleibt der Chor ständig präsent und reagiert situationsbezogen auf die Bühnenhandlung, wobei der an sich gleichbleibende Chor innerhalb einer Tragödie verschiedene Rollen repräsentieren und damit perspektivierende Funktion übernehmen kann.
Mit zunehmender Zahl an Solisten auf der Bühne nimmt die Bedeutung des Chores für die Handlung ab, so dass er in der römischen Tragödie bei Seneca nur noch begleitende Funktion hat, im Mittelalter gibt es dann keinen ‚Chor’ mehr, nur noch Massenszenen mit einem nicht näher charakterisierten Kollektiv an Sprechern.
Im Renaissance-Drama gewinnt der Chor wieder an Bedeutung und tritt oft an
Akt
Akt
Dominierende Gliederungseinheit im Drama, welche räumliche und inhaltliche Strukturierung gewährleistet. Der Akt lässt sich weiter untergliedern in Szenen oder Auftritte.
enden auf, woraus sich sein Einsatz zwischen den Akten im Barock-Theater entwickelt, wo er weniger als Kommentator der eigentlichen Handlung erscheint, sondern eher Zwischenspiele bietet. Mit der Aufklärung werden diese eliminiert und der Chor wird zu einem bewusst eingesetzten dramatischen Element, z. B. in Schillers Braut von Messina oder Goethes Faust II. Für Massen- und Volksszenen bleibt er relevant und gewinnt Anfang des 20. Jhs. Relevanz entweder in kommentierender, illusionsbrechender oder agitatorischer Funktion.
Erläuterung:
Chorszene im antiken Drama, Sophokles, König Ödipus: nachdem Ödipus seine Herkunft und Taten aufgedeckt hat, geht er von der Bühne, um sich selbst zu blenden, der Chor bleibt auf der Bühne:
Textbeispiel:
CHOR:
Ihr Menschengeschlechter, ach,
euer Leben, wie muß ich es
gleich dem Nichts doch erachten!
Denn wer, welcher Mann wohl trägt
Mehr Glückseligkeit je davon,
als soviel er zu haben wähnt,
eh’ dem Wahn er entfallen?
Beispiel ist mir der deinige,
dein Daimon: denk’ ich deinem nach,
armer Oidipus, keinen preis’ ich selig auf Erden.
Du, der über alles Maß
Zielend traf und bemächtigt sich
ganz des seligsten Glückes,
bei Zeus! Da du tilgtes die
Jungfrau mit den gekrümmten Klaun,
Sprüchesängerin, meinem Land
Halfst, ein Turm im Verderben:
Mein König heißest du seither,
höchste Ehren empfingst du,
in des mächtigen Thebens Stadt als Herrscher gebietend.
Und nun – von wem hört man größeren Elends Not?
Wer ward mit Qual, mit grausem Frevelsinn
In jähem Wechsel eng vertraut?
O Leid! […]
Sophokles: König Ödipus
Erläuterung:
Friedrich Schiller verwendet den Chor nur in einem seiner Dramen, der Braut von Messina. Was er mit ihm bezweckt, legt er in der Vorrede „Über den Gebrauch des Chores“ dar. Dort heißt es unter anderem: „So wie der Chor in die Sprache Leben bringt, so bringt er Ruhe in die Handlung – aber die schöne und hohe Ruhe, die der Charakter eines edeln Kunstwerkes sein muß. […] Chöre kennt man zwar auch schon in der modernen Tragödie, aber der Chor des antiken Trauerspiels, so wie ich ihn hier gebraucht habe, der Chor als eine einzige ideale Person, die die ganze Handlung trägt und begleitet, […]. Ich habe den Chor zwar in zwei Teile getrennt und im Streit mit sich selbst dargestellt; aber dies ist nur dann der Fall, wo er als wirkliche Person und als blinde Menge mithandelt. Als Chor und als ideale Person ist er immer eins mit sich selbst.“
Nachdem Don Caesar den Entschluss zu Selbstmord als Sühne für seinen Brudermord gefällt hat, spricht er mit dem Chor:
Textbeispiel:
CHOR: Beschließe nichts gewaltsam Blutige, o Herr,
Wider dich selber wütend mit Verzweiflungstat:
Denn auf der Welt lebt niemand, der dich strafen kann,
Und fromme Büßung kauft den Zorn des Himmels ab.
DON CAESAR: Nicht auf der Welt lebt, wer mich richtend strafen kann,
Drum muß ich selber an mir selber es vollziehn.
Bußfertige Sühne, weiß ich, nimmt der Himmel an,
Doch nur mit Blute büßt sich ab der blutge Mord.
CHOR: Des Jammers Fluten, die auf dieses Haus gestürmt,
Ziemt dir zu brechen, nicht zu häufen Leid auf Leid.
DON CAESAR: Den alten Fluch des Hauses lös ich sterbend auf,
Der freie Tod nur bricht die Kette des Geschicks.
CHOR: Zum Herrn bist du dich schuldig dem verwaisten Land,
Weil du des andern Herrscherhauptes uns beraubt.
DON CAESAR: Zuerst den Todesgöttern zahl ich meine Schuld,
Ein andrer Gott mag sorgen für die Lebenden.
CHOR: Soweit die Sonne leuchtet, ist die Hoffnung auch,
Nur von dem Tod gewinnt sich nichts! Bedenk es wohl.
Don CAESAR: Du selbst bedenke schweigend deine Dienerpflicht,
Mich laß dem Geist gehorchen, der mich furchtbar treibt,
Denn in das Innre kann kein Glücklicher mir schaun. […]
Friedrich Schiller: Braut von Messina
Erläuterung:
Bertold Brecht nutzt den Chor in seinem epischen Theater, so z.B. in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny:
Textbeispiel:
Lautsprecher: Der Hurrikan hat um die Stadt Mahagonny einen Bogen gemacht und setzt seinen Weg fort.
CHOR: (Mädchen, Männer)
O wunderbare Lösung
Die Stadt der Freude ward verschont.
Die Hurrikane gingen vorüber in großer Höhe
Und der Tod tritt in die Wasser zurück.
O wunderbare Lösung!
VON NUN AN WAR DER LEITSPRUCH DER MAHAGONNY-LEUTE DAS WORT: „DU DARFST“, WIE SIE ES IN DER NACHT DES GRAUENS GELERNT HATTEN.
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HOCHBETRIEB IN MAHAGONNY, UNGEFÄHR EIN JAHR NACH DEM GROßEN HURRIKAN.
Die Männer treten an die Rampe und singen.
CHOR:
Erstens vergeßt nicht, kommt das Fressen
Zweitens kommt der Liebesakt
Drittens das Boxen nicht vergessen
Viertens Saufen, das steht im Kontrakt.
Vor allem aber achtet scharf
Daß man hier alles dürfen darf.
Bertolt Brecht: Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny
Fragestellung:
Überlegen Sie, in welchem Maße der Chor in den obigen Beispielen jeweils in die Handlung involviert ist, und ordnen Sie den drei Szenen jeweils das Adjektiv zu, das sie am treffendsten beschreibt: kommentierend, beratend oder zeigend.
Ihre Formulierung:
Sophokles, König Ödipus: kommentierend
Schiller, Braut von Messina: beratend.
Brecht, Mahagonny: zeigend

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