Die Begründung der „Literatur-Wissenschaft“
Ausgangsbedingung für die in den 1870er und 1880er Jahren begonnene und in den 1890er
   Jahren intensivierte Begründung eines „wissenschaftlichen“ Umgangs mit Literatur war
   die sich ausweitende Beschäftigung mit Texten im Zeichen von Differenzierung und Integration:
   Aus einer spezialisierten Philologie, die sich den nicht mehr gesprochenen Varianten
   germanischer Sprachen und ihrer Literatur gewidmet hatte, war im Zuge der Fusion mit
   der von Historikern und Philosophen betriebenen Erforschung der neuhochdeutschen Literatur
   eine philologische Gesamtwissenschaft entstanden, die seit den 1860er Jahren auch
   „Germanistik“ hieß und eigene Institute bzw. Seminare erhielt. Die Verbindung von
   deutscher Philologie und ästhetisch bzw. ideenhistorisch interessierter Literaturgeschichtsschreibung
   reagierte jedoch weniger auf eine staatliche Bildungspolitik, die eine disziplinäre
   Einheit für die Ausbildung von Deutschlehrern benötigte, als vielmehr auf Veränderungen
   im kulturellen Haushalt einer sich (nach der Reichsgründung von 1871 auch politisch
   erfolgreich) konstituierenden Nation. Das expandierende Presse- und Zeitungswesen
   beobachtete im Feuilleton eine wachsende Vielfalt kultureller Gegenstände (vor allem
   Literatur, Musik, Theateraufführungen) und bot nicht nur den Absolventen textbezogener
   Studiengänge, sondern auch akademischen Spezialisten eine Plattform publizistischer
   Tätigkeit. Kein geringerer als der erste ordentliche Professor für Neuere deutsche
   Literaturgeschichte an der Berliner Universität veröffentlichte Kapitel aus seiner
   Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1880 und 1883 in der Wiener Zeitung Neue
   Freie Presse im Vorabdruck; auch sein Schüler und Nachfolger Erich Schmidt pflegte
   Kontakte mit zeitgenössischen Schriftstellern und trat für zunächst umstrittene Autoren
   wie Gerhart Hauptmann und Frank Wedekind ein. (Diese persönliche Nähe zu zeitgenössischen
   Schriftstellern hatte zugleich Folgen für die wissenschaftlich-kritische Tätigkeit
   Erich Schmidts: In seinen Charakteristiken, deren erster Band 1886 erschien, dokumentierten
   die Darstellungen von Theodor Fontane und Gustav Freytag, Gottfried Keller und Theodor
   Storm das neuartige Bemühen, auch die Gegenwartsliteratur in die Beobachtung einzubeziehen.
   Unter den insgesamt 96 Doktoranden, die Erich Schmidt während seiner Zeit als Professor
   für Neure deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Universität betreute, befanden
   sich neben später prominenten Literaturforschern wie Friedrich Gundolf, Harry Maync,
   Julius Petersen und Franz Schultz auch wichtige Kulturschaffende wie Arthur Eloesser,
   Monty Jacobs, Ludwig Marcuse oder Alfred Kerr). – Veränderungen im kulturellen Raum
   ergaben sich zudem aus technischen Erfindungen. Die Entwicklung der Rollenrotationsmaschine
   1865 und der billigen Broschur-Bindung ermöglichte hohe Auflagen für eine Buchproduktion,
   die – insbesondere nach dem Auslaufen der Urheberrechts-Schutzfristen aller vor 1837
   verstorbenen Autoren im „Klassikerjahr“ 1867 – zur explosionsartigen Vermehrung preiswerter
   Ausgaben bedeutsamer deutscher Autoren führte: Die „Nationalbibliothek sämtlicher
   deutscher Classiker“, mit enormem Kapitalaufwand und bemerkenswertem Bemühen um korrekte
   Texte im Berliner Verlag von Gustav Hempel hergestellt und zum Preise von zweieinhalb
   Groschen pro Lieferung verkauft, hatte eine Startauflage von 150.000 Exemplaren; die
   programmatische erste Nummer von Philipp Reclams Universalbibliothek, Goethes Faust,
   erreichte in wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exemplaren. 
Zunehmende Zirkulation kultureller Güter und deren intensivierte Beobachtung in einer
   sich diversifizierenden Öffentlichkeit bildeten also die externen Bedingungen für
   einen Bedeutungszuwachs des universitär professionalisierten Umgangs mit deutscher
   Literatur, der sich in den Gründungsdaten der Seminare für deutsche bzw. germanische
   Philologie an den Universitäten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches ablesen lässt.
   1858 wurde in Rostock das erste Germanische Seminar gegründet; 1872 folgten Tübingen
   und Straßburg, 1873 Heidelberg, Würzburg und Leipzig, 1874 Freiburg, 1875 Kiel und
   Halle, 1876 Marburg und Greifswald, 1877 Breslau, 1881 Jena, 1883 Erlangen, 1887 Berlin
   und Königsberg, 1888 Bonn, 1889 Göttingen und Gießen, 1892 München und schließlich
   1895 Münster (Meves 1987, 72f.).
Innerhalb der durch Seminar-Gründungen institutionell arrivierten Germanistik hatten
   schon bald Prozesse der Differenzierung und Separation eingesetzt. Eine signifikante
   Sezession erfolgte im Zuge einer Gegenstandserweiterung: Mit der Behandlung neuhochdeutscher
   Texte trennte sich eine „neuere“ von einer auf das Studium der germanischen Sprachen
   und deren Literatur konzentrierten „älteren Abteilung“. Während in der germanistischen
   Mediävistik die Einheit von Sprach- und Literaturforschung (noch) gewahrt blieb, konzentrierte
   sich die neuere deutsche Philologie auf die seit der frühen Neuzeit entstandenen literarischen
   Werke und bearbeitete sie mit dem bewährten, den aktuellen Gegebenheiten angepassten
   Instrumentarien der Philologie: Textkritik, Quellen- und Einflussforschung, Biographik.
   Davon profitierte in erster Linie die Überlieferungssicherung. Karl Goedeke (1814-1887)
   erstellte nach einem „aus den Quellen“ geschöpften Grundriß zur Geschichte der deutschen
   Dichtung – der als bio-bibliographisches Kompendium von der Preußischen bzw. der Deutschen
   Akademie der Wissenschaften bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt
   wurde – zwischen 1867 und 1876 die erste historisch-kritische Ausgabe der Schriften
   Friedrich Schillers. Bernhard Suphan (1845-1911) legte mit seiner zwischen 1877 und
   1913 erschienenen und bis heute unersetzten historisch-kritischen Herder-Ausgabe die
   Grundlage für eine quellenbezogene Herder-Renaissance seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.
   Zu einem besonders intensiv bearbeiteten Gegenstand der neueren Literaturforschung
   aber stieg ein Autor auf, der aufgrund der ästhetischen Faktur seiner Texte wie durch
   eine nahezu ideale Quellenlage (in Form autobiographischer Schriften und Selbstkommentare,
   einer Werkausgabe letzter Hand und eines seit 1886 zugänglichen Archivs) für textkritische
   wie für biographische und werkgeschichtliche Explorationen besonders gut geeignet
   war: Die wissenschaftlich spezialisierte Beschäftigung mit der neueren deutschen Literatur
   etablierte sich – insbesondere nach der lange verwehrten und spannungsvoll erwarteten
   Öffnung des Weimarer Archivs – als „Goethe-Philologie“, konnte sich doch gerade auf
   diesem prestigeträchtigen und von der kulturellen Öffentlichkeit aufmerksam beobachteten
   Feld ein akademischer Zugang von den Bemühungen einer nicht-institutionalisierten
   Forschung unterscheiden. Den Terminus „Goethe-Philologie“ hatte Karl Gutzkow schon
   1861 geprägt und zunächst eher unfreundlich gemeint (Mandelkow 1980, 156; vgl. Kruckis
   1989; Kruckis 1994, 451-493). Vor allem im Umgang mit diesem Autor ließen sich Akribie
   und Entsagungsbereitschaft sowie professionelle Kompetenz für tiefenstrukturelle Analysen
   unter Beweis stellen. „Die Philologie ist die schmiegsamste aller Wissenschaften.
   Sie ist ganz auf das feinste Verständnis gegründet. Die Gedanken und Träume vergangener
   Menschen und Zeiten denkt sie nach, träumt sie nach“, dekretierte Wilhelm Scherer
   im programmatischen Aufsatz Goethe-Philologie, der 1877 in der populären Kulturzeitschrift
   Im neuen Reich erschien: „Aber alles Verstehen ist ein Nachschaffen: wir verwandeln
   uns in das, was wir begreifen; der Ton, der an unser Ohr schlägt, muß einen verwandten
   in uns wecken, sonst sind wir taub; und die partielle Taubheit ist leider gemeines
   Menschenloos. Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend: die
   Philologen stehen unter den Gesetzen endlicher Beschränkung.“ [27] Doch projektierte
   Scherer nicht nur eine Intimkommunikation zwischen dem poetischem Werk und einer „auf
   das feinste Verständnis“ gegründeten Philologie, die in ihrer Gesamtheit die Defizite
   ihrer einzelnen und stets beschränkten Glieder ausgleichen sollte. Die immer wieder
   angemahnte „peinliche Gewissenhaftigkeit“ für „Einzelheiten“ und noch die „kleinsten
   Veränderungen“ markierte zugleich die Kompetenzen wie die Bedeutung der eigenen Zunft
   und erhob den philologischen Umgang mit Texten zur Athletik: „Jedem Philologen wird
   das Streben nach der Wahrheit an sich, nach dem Echten, Ursprünglichen, Authentischen,
   eine Art von Sport, dem wir uns mit einem gewissen humoristischen Behagen hingeben.“
   [28]
Seit Ende der 1880er Jahre wuchs die Sensibilität für die Beschränkungen und Grenzen
   einer so betriebenen Literaturforschung. Denn was Scherer noch als eine „Art von Sport“
   angesehen hatte, führte in den Arbeiten seiner Schüler und Kollegen zu teilweise skurrilen
   Verrenkungen: Goethes Weinbestellungen wurden ebenso ermittelt (und im Archiv für
   Litteraturgeschichte abgedruckt) wie die Augenfarbe der vermeintlichen Referenzpersonen
   seiner fiktionalen Texte. Die gesamte Goethe-Philologie durchziehe das „unersättliche
   Bestreben, die ‚Modelle’ des Dichters ausfindig zu machen, die Quellen seines Stoffs
   aufzuspüren, an ‚Vorbildern’, ‚Vorlagen, ‚Reminiszenzen’ und ‚Parallelstellen’ Entlehnungen
   und Beeinflussungen nachzuweisen“, kritisierte der Münchener Gymnasialprofessor Richard
   Weltrich, „eine wilde Jagd nach diesen vermeintlichen Grundbestandteilen des Kunstwerks
   ist los, und die willkürlichste Verdrehung, die künstlichste Hypothese, die gezwungenste
   Deutung wird gewagt, wenn sie aufzuzeigen scheint, dass dem Dichter bei dieser oder
   jener poetischen Gestalt oder Scene ein bestimmtes Erlebnis, eine persönliche Erfahrung,
   dass ihm bei dieser oder jener Stelle der Satz, der Gedanke, der Vers eines anderen
   Autors ‚vorgeschwebt’ habe.“ [29] Zwar ermöglichte die akribische Arbeit im Archiv
   spektakuläre Entdeckungen wie etwa den Fund des Urfaust-Manuskripts durch Erich Schmidt
   1887; die detaillierte Zergliederung der Überlieferung und ihre mikrologische Erforschung
   aber rief zunehmende öffentliche Unzufriedenheit hervor. Die fast erdrückende Überlegenheit
   der „stramm organisierten Schule mit dem bewußten Streben nach literarischer Diktatur“
   fand gleichfalls Widerspruch. Gegen die Besetzung strategischer Positionen durch Wilhelm
   Scherer und seine Schüler polemisierte etwa die Schrift Göthekult und Göthephilologie
   von Friedrich Braitmaier, die zugleich eine aufschlussreiche Genealogie der modernen
   Literaturforschung entwickelte: „Die trockene Philologie verbündete sich mit dem geistreichen
   Feuilleton. W. Scherer heiratete H. Grimm. Scherer-Grimm zeugte E. Schmidt und die
   zahlreiche Schar zünftiger Goethe-Philologen.“ [30]
Die Kritik an einer biographistisch und faktizistisch fokussierten Literaturgeschichtsschreibung
   und die ungeklärten Probleme der Interpretation literarischer Texte verdichteten sich
   seit Mitte der 1880er Jahre zu Programmen eines veränderten Umgangs mit Literatur.
   Befördert durch einen disziplinenübergreifenden Prozess der „Theoretisierung“ der
   Wissenserzeugung entstanden nun verschiedene Anläufe zur Begründung einer „Literaturwissenschaft“,
   die ihren Gegenstand durch eine Theorie seiner Entstehung zu bestimmen und dessen
   Genese zu beschreiben suchte. Die Philologie als Hilfswissenschaft nutzend, sollte
   diese als „Prinzipienwissenschaft“ auftretende Textbehandlung gesetzmäßige Aussagen
   über die Entstehungsbedingungen und Entwicklungsphasen ihres Gegenstandes ermöglichen:
   „Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist die Constatirung von Gesetzen“, postulierte
   Ernst Grosse in seiner Hallenser Dissertation Die Literatur-Wissenschaft 1887 und
   unterschied „Gesetze der Statik“ („der wechselseitigen Abhängigkeit coexistierender
   Erscheinungen“) und der „Dynamik“ („der Abhängigkeit der successiven Erscheinungen“).
   [31] Auf induktivem Wege sollten die Gesetze der Statik aufgefunden und die Abhängigkeit
   des „literarischen Werkes“ vom Charakter des Dichters, von seinem Organismus und von
   seiner Umwelt, d.h. von Familie, Nation, Kultur, Klima nachgewiesen werden. Induktiv
   seien auch die Gesetze der Dynamik festzustellen: Vom „Gesetz der Entwicklung des
   einzelnen poetischen Werkes“ über das „Gesetz der Entwicklung des poetischen Schaffens
   des Individuums“ bis zum „Gesetz der Entwicklung der poetischen Literatur überhaupt“.
   [32] Da die Ermittlung eines solchen nomologischen Wissens aufgrund der komplizierten
   und der Beobachtung zumeist unzugänglichen „Thatsachen“ schwierig, wenn nicht gar
   unmöglich sei, schlug Ernst Grosse einen Weg vor, der Scherers Methode der „wechselseitigen
   Erhellung“ entsprach. Aus „gleichartigen“, doch weniger komplizierten, evolutionär
   früheren und leichter zugänglichen Fällen seien induktiv Gesetze zu ermitteln und
   aus diesen nach den Vorgaben der Entwicklungsidee die Gesetzmäßigkeiten komplizierterer
   Phänomene zu deduzieren. Aus der Beobachtung eines Mädchens, das seiner Puppe eine
   Geschichte erzählt, könne die Literaturwissenschaft zumindest vorläufig mehr lernen
   als aus den Werken Goethes: „Nur durch die Untersuchung jener einfachen Formen sind
   die Gesetze aufzufinden, aus welchen die Gesetzmässigkeit der complicirteren Producte
   einer späteren Entwicklungsstufe deducirt werden muss.“ [33] Grosse benannte auch
   die bereits existierenden Wissenschaftszweige, auf deren Vorleistungen die sich formierende
   Literaturwissenschaft zurückgreifen sollte. Um das Gesetz der „Beziehungen zwischen
   der Eigenart eines Werks und der Eigenart des Dichters“ formulieren zu können, wäre
   die Ethologie, also die „Wissenschaft von der Charakterbildung“ heranzuziehen. Die
   Erforschung der „Relationen zwischen dem psychischen Leben des Dichters und dem Leben
   seines Gesamtorganismus“ werde mit Hilfe der Beobachtungen von Physiologie und Pathologie
   möglich (etwa über die „eigenthümlichen psychischen Vorgänge, welche nach dem Genuss
   von Haschisch und Opium auftreten“). Die Frage nach den Einflüssen der Umwelt lasse
   sich dank der Vorarbeiten von Soziologie und Ethnologie beantworten.
Der so entworfenen Ausrichtung der „Literatur-Wissenschaft“ auf Gesetzeserkenntnis
   folgten in den 1890er Jahren weitere programmatische Schriften. Der neuen literarischen
   Entwicklungen gegenüber aufgeschlossene Germanist Eugen Wolff (1863-1929) – er war
   Mitbegründer der Vereinigung „Durch“ und verwendete schon 1886 den Begriff „Moderne“
   zur Charakterisierung des Naturalismus – formulierte in den 1890 veröffentlichten
   Arbeiten Das Wesen wissenschaftlicher Literaturbetrachtung und Prolegomena der litterar-evolutionistischen
   Poetik die Grundsätze einer Beobachtungs- und Erklärungsperspektive, die er in einer
   1899 publizierten Poetik ausführte. Dieses Grundlagenwerk, das laut Nebentitel Die
   Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung bestimmen wollte, antwortete
   auf Grosses Frage nach dem „Gesetz der Entwicklung der poetischen Literatur überhaupt“
   und korrespondierte darin den von Ernst Elster 1897 vorgelegten Prinzipien der Litteraturwissenschaft
   und Hubert Roettekens 1902 veröffentlichter Poetik. „Nachweis der Gesetze“ und „causale
   Erklärung“ forderte auch der Anglist und Komparatist Wilhelm Wetz im Einleitungskapitel
   „Ueber Begriff und Wesen der vergleichenden Literaturgeschichte“ seines Shakespeare-Buches
   von 1890. [34] Aber auch der Altphilologe Oskar Froehde verlangte die „erforschung
   der bedingungen, unter denen die litteratur entsteht, der ursachen, weshalb ein litteraturwerk
   so und nicht anders beschaffen ist“. [35]
Die programmatischen Deklarationen zur Begründung der Literaturforschung als Gesetzeswissenschaft
   erwiesen sich jedoch als wenig anschlussfähig. Die Poetiken von Ernst Elster und Hubert
   Roetteken blieben Fragmente; Eugen Wolffs Grundlagenschrift Die Gesetze der Poesie
   in ihrer geschichtlichen Entwicklung formulierte ebenso wenig wie Richard Maria Werners
   Buch Lyrik und Lyriker (Hamburg 1890) Aussagen, die als Gesetze anzusehen wären. Die
   letztgenannte Untersuchung dokumentiert exemplarisch die Schwachpunkte der Versuche,
   „eine neue Ästhetik im naturwissenschaftlichen Sinne zu begründen und aus genauer
   Beobachtung der Thatsachen zu einer Erfassung der Gesetze aufzusteigen“. [36] Zum
   einen bildete das herangezogene Material nur eine Sammlung von Berichten über die
   Stadien „Erlebnis“, „Stimmung“, „Befruchtung“, „inneres Wachstum“, „Geburt“ etc. im
   Werdeprozess des lyrischen Gedichts – wobei die aus Briefen, Tagebüchern und anderen
   persönlichen Aufzeichnungen von deutschen Autoren des späten 18. und 19. Jahrhunderts
   gewonnenen Darstellungen nur Textzeugnisse darstellten, die keinen Anspruch darauf
   erheben konnten, vom Literaturwissenschaftler beobachtete oder beobachtbare „Thatsachen“
   zu sein. Zum anderen konnte die angekündigte Formulierung von Gesetzen nicht erreicht
   werden: Die an der Physiologie orientierten Analogiebildungen – die etwa das Erlebnis
   als „Samen“ oder „Eizelle“ bestimmten – konnten nicht verbergen, dass die zu erklärenden
   poetischen Texte nur als unkommentierte Zitate bzw. Belege für den Abschluss eines
   Werdeprozesses erschienen und weder in ihrer spezifischen Qualität noch in ihrer Genese
   erklärt werden konnten.
Auch wenn die Unternehmen zur Verwissenschaftlichung der Literaturgeschichte heute
   weitgehend vergessen sind, hinterließen sie doch ihre Spuren. Die „aufstellung einer
   besondern, selbständigen litteraturwissenschaft“ [37] führte zu jenem veränderten
   Umgang mit literarischen Texten, der im deutschen Sprachraum den Begriff einer Wissenschaft
   erhielt und in seiner Konzentration auf einen spezifisch bestimmten Objektbereich
   das Gegenstandsfeld dieser Wissenskultur neu bestimmte. Hatte die klassische Philologie
   des 19. Jahrhunderts als zentrales Erkenntnisziel „die kenntnis der alterthümlichen
   Menschheit selbst“ fixiert und literarische Dokumente als Mittel des Zugangs dazu
   aufgefasst, [38] erhob man nun die literarische Qualität von Texten zum primären Forschungsobjekt:
   „dem litteraturforscher ist die litteratur selbstzweck: er will aus ihr nicht das
   wesen der sprache oder der politischen vorgänge, sondern das wesen der litteratur
   selbst ergründen“. [39] Damit begann jedoch nicht nur eine Klärung der Beziehung zu
   philogischen und historischen Textumgangsformen. Das Projekt, die Literatur als solche
   zu untersuchen und wissenschaftlich zu erforschen, setzte Distanzierungsweisen voraus,
   die eine theoretische Perspektive zum Objekt wie zur eigenen Beobachtungspraxis ermöglichten.
   Die sich in den Texten der 1890er Jahre formierende „Prinzipienwissenschaft der Litteraturgeschichte“
   [40] bzw. literaturwissenschaftliche „Prinzipienlehre“ [41] sollte – zumindest dem
   programmatischen Anspruch nach – nicht nur die spezifische Seinsweise literarischer
   Texte, sondern zugleich auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen reflektieren:
   Zum einen durch die Klärung von Aufgabe und Gliederung sowie von Inhalt und Umfang
   wissenschaftlicher Textumgangsformen; zum anderen durch die Explikation des Weges,
   auf dem die Forschung zu ihren Resultaten gelangte. In der Einheit von Gegenstandskonstitution
   und Methodologie wurde die „prinzipienwissenschaftliche“ Beobachtung der neuen Wissenskultur
   zum Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses, der erst später Begriff und Realisierung
   finden sollte. Seit Boris Tomashewskijs Teorija literatury (1925) und der von formalistisch-strukturalistischen
   Verfahren profitierenden Theory of Literature von Warren Austin und René Wellek (1945/49)
   verfügt die disziplinär organisierte Literaturforschung über ein (auch terminologisch
   fixiertes und von anderen Bereichen abgegrenztes) Arbeitsfeld, das die konzeptionellen
   Grundlagen der wissenschaftlichen Beobachtung von literarischer Kommunikation ebenso
   thematisiert wie die dazu angewendeten Methoden und Verfahren.
Die Versuche zur Begründung einer „Prinzipienwissenschaft“ brachten also Textumgangsformen
   eines neuen Typs hervor, auch wenn sie nicht als deren Fundament dienen konnten. Sie
   erzeugten zugleich ein Problem, an dem die „Methodendiskussion“ der Literaturwissenschaft
   bis weit ins 20. Jahrhundert laborierte. Indem die grundlegenden Poetologien eine
   intensionale „Wesensbestimmung“ ihres Gegenstandes in Form einer Theorie seiner Produktion
   bzw. Entstehung lieferten und keine extensionale Ab- und Eingrenzung vornahmen, verhinderten
   sie eine Festlegung, was denn unter „Literatur“ bzw. „Literaturwissenschaft“ zu verstehen
   sei. Statt ihre Beobachtungspraxis zum Objekt theoretischer Reflexion zu machen, vervielfältigten
   sie die Formen eines Umgangs mit Literatur, der zirkuläre Strukturen aufwies. Denn
   durch entstehungstheoretische Zielvorgaben (Literatur als Emanation eines Erlebens
   oder eines [transpersonalen] Geistes, als Resultat der Prägung durch Stamm und Landschaft,
   als Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, als Form eines reglementierenden Diskurses
   etc.) ließ sich jede Beschäftigung mit literarischen Texten so steuern, dass die vorausgesetzte
   Definition von Literatur bestätigt werden konnte. Gleiches gilt für die Methodologie.
   Auch wenn die Programme einer „verwissenschaftlichten“ Literaturforschung nirgends
   klar sagten, wie die postulierten „gesetze der litterarischen forschung“ beschaffen
   sein sollten, verpflichteten sie die nachfolgende wissenschaftliche Behandlung von
   Texten darauf, die behaupteten Entstehungsmomente als Untersuchungsziel anzunehmen
   und zu verfolgen – was im 20. Jahrhundert in zahlreichen und immer schneller aufeinander
   folgenden Varianten betrieben wurde.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
      |
      
   Die Begründung der „Literatur-Wissenschaft“
   
      |