Die Begründung der „Literatur-Wissenschaft“
Ausgangsbedingung für die in den 1870er und 1880er Jahren begonnene und in den 1890er
Jahren intensivierte Begründung eines „wissenschaftlichen“ Umgangs mit Literatur war
die sich ausweitende Beschäftigung mit Texten im Zeichen von Differenzierung und Integration:
Aus einer spezialisierten Philologie, die sich den nicht mehr gesprochenen Varianten
germanischer Sprachen und ihrer Literatur gewidmet hatte, war im Zuge der Fusion mit
der von Historikern und Philosophen betriebenen Erforschung der neuhochdeutschen Literatur
eine philologische Gesamtwissenschaft entstanden, die seit den 1860er Jahren auch
„Germanistik“ hieß und eigene Institute bzw. Seminare erhielt. Die Verbindung von
deutscher Philologie und ästhetisch bzw. ideenhistorisch interessierter Literaturgeschichtsschreibung
reagierte jedoch weniger auf eine staatliche Bildungspolitik, die eine disziplinäre
Einheit für die Ausbildung von Deutschlehrern benötigte, als vielmehr auf Veränderungen
im kulturellen Haushalt einer sich (nach der Reichsgründung von 1871 auch politisch
erfolgreich) konstituierenden Nation. Das expandierende Presse- und Zeitungswesen
beobachtete im Feuilleton eine wachsende Vielfalt kultureller Gegenstände (vor allem
Literatur, Musik, Theateraufführungen) und bot nicht nur den Absolventen textbezogener
Studiengänge, sondern auch akademischen Spezialisten eine Plattform publizistischer
Tätigkeit. Kein geringerer als der erste ordentliche Professor für Neuere deutsche
Literaturgeschichte an der Berliner Universität veröffentlichte Kapitel aus seiner
Geschichte der deutschen Literatur zwischen 1880 und 1883 in der Wiener Zeitung Neue
Freie Presse im Vorabdruck; auch sein Schüler und Nachfolger Erich Schmidt pflegte
Kontakte mit zeitgenössischen Schriftstellern und trat für zunächst umstrittene Autoren
wie Gerhart Hauptmann und Frank Wedekind ein. (Diese persönliche Nähe zu zeitgenössischen
Schriftstellern hatte zugleich Folgen für die wissenschaftlich-kritische Tätigkeit
Erich Schmidts: In seinen Charakteristiken, deren erster Band 1886 erschien, dokumentierten
die Darstellungen von Theodor Fontane und Gustav Freytag, Gottfried Keller und Theodor
Storm das neuartige Bemühen, auch die Gegenwartsliteratur in die Beobachtung einzubeziehen.
Unter den insgesamt 96 Doktoranden, die Erich Schmidt während seiner Zeit als Professor
für Neure deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Universität betreute, befanden
sich neben später prominenten Literaturforschern wie Friedrich Gundolf, Harry Maync,
Julius Petersen und Franz Schultz auch wichtige Kulturschaffende wie Arthur Eloesser,
Monty Jacobs, Ludwig Marcuse oder Alfred Kerr). – Veränderungen im kulturellen Raum
ergaben sich zudem aus technischen Erfindungen. Die Entwicklung der Rollenrotationsmaschine
1865 und der billigen Broschur-Bindung ermöglichte hohe Auflagen für eine Buchproduktion,
die – insbesondere nach dem Auslaufen der Urheberrechts-Schutzfristen aller vor 1837
verstorbenen Autoren im „Klassikerjahr“ 1867 – zur explosionsartigen Vermehrung preiswerter
Ausgaben bedeutsamer deutscher Autoren führte: Die „Nationalbibliothek sämtlicher
deutscher Classiker“, mit enormem Kapitalaufwand und bemerkenswertem Bemühen um korrekte
Texte im Berliner Verlag von Gustav Hempel hergestellt und zum Preise von zweieinhalb
Groschen pro Lieferung verkauft, hatte eine Startauflage von 150.000 Exemplaren; die
programmatische erste Nummer von Philipp Reclams Universalbibliothek, Goethes Faust,
erreichte in wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exemplaren.
Zunehmende Zirkulation kultureller Güter und deren intensivierte Beobachtung in einer
sich diversifizierenden Öffentlichkeit bildeten also die externen Bedingungen für
einen Bedeutungszuwachs des universitär professionalisierten Umgangs mit deutscher
Literatur, der sich in den Gründungsdaten der Seminare für deutsche bzw. germanische
Philologie an den Universitäten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches ablesen lässt.
1858 wurde in Rostock das erste Germanische Seminar gegründet; 1872 folgten Tübingen
und Straßburg, 1873 Heidelberg, Würzburg und Leipzig, 1874 Freiburg, 1875 Kiel und
Halle, 1876 Marburg und Greifswald, 1877 Breslau, 1881 Jena, 1883 Erlangen, 1887 Berlin
und Königsberg, 1888 Bonn, 1889 Göttingen und Gießen, 1892 München und schließlich
1895 Münster (Meves 1987, 72f.).
Innerhalb der durch Seminar-Gründungen institutionell arrivierten Germanistik hatten
schon bald Prozesse der Differenzierung und Separation eingesetzt. Eine signifikante
Sezession erfolgte im Zuge einer Gegenstandserweiterung: Mit der Behandlung neuhochdeutscher
Texte trennte sich eine „neuere“ von einer auf das Studium der germanischen Sprachen
und deren Literatur konzentrierten „älteren Abteilung“. Während in der germanistischen
Mediävistik die Einheit von Sprach- und Literaturforschung (noch) gewahrt blieb, konzentrierte
sich die neuere deutsche Philologie auf die seit der frühen Neuzeit entstandenen literarischen
Werke und bearbeitete sie mit dem bewährten, den aktuellen Gegebenheiten angepassten
Instrumentarien der Philologie: Textkritik, Quellen- und Einflussforschung, Biographik.
Davon profitierte in erster Linie die Überlieferungssicherung. Karl Goedeke (1814-1887)
erstellte nach einem „aus den Quellen“ geschöpften Grundriß zur Geschichte der deutschen
Dichtung – der als bio-bibliographisches Kompendium von der Preußischen bzw. der Deutschen
Akademie der Wissenschaften bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt
wurde – zwischen 1867 und 1876 die erste historisch-kritische Ausgabe der Schriften
Friedrich Schillers. Bernhard Suphan (1845-1911) legte mit seiner zwischen 1877 und
1913 erschienenen und bis heute unersetzten historisch-kritischen Herder-Ausgabe die
Grundlage für eine quellenbezogene Herder-Renaissance seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Zu einem besonders intensiv bearbeiteten Gegenstand der neueren Literaturforschung
aber stieg ein Autor auf, der aufgrund der ästhetischen Faktur seiner Texte wie durch
eine nahezu ideale Quellenlage (in Form autobiographischer Schriften und Selbstkommentare,
einer Werkausgabe letzter Hand und eines seit 1886 zugänglichen Archivs) für textkritische
wie für biographische und werkgeschichtliche Explorationen besonders gut geeignet
war: Die wissenschaftlich spezialisierte Beschäftigung mit der neueren deutschen Literatur
etablierte sich – insbesondere nach der lange verwehrten und spannungsvoll erwarteten
Öffnung des Weimarer Archivs – als „Goethe-Philologie“, konnte sich doch gerade auf
diesem prestigeträchtigen und von der kulturellen Öffentlichkeit aufmerksam beobachteten
Feld ein akademischer Zugang von den Bemühungen einer nicht-institutionalisierten
Forschung unterscheiden. Den Terminus „Goethe-Philologie“ hatte Karl Gutzkow schon
1861 geprägt und zunächst eher unfreundlich gemeint (Mandelkow 1980, 156; vgl. Kruckis
1989; Kruckis 1994, 451-493). Vor allem im Umgang mit diesem Autor ließen sich Akribie
und Entsagungsbereitschaft sowie professionelle Kompetenz für tiefenstrukturelle Analysen
unter Beweis stellen. „Die Philologie ist die schmiegsamste aller Wissenschaften.
Sie ist ganz auf das feinste Verständnis gegründet. Die Gedanken und Träume vergangener
Menschen und Zeiten denkt sie nach, träumt sie nach“, dekretierte Wilhelm Scherer
im programmatischen Aufsatz Goethe-Philologie, der 1877 in der populären Kulturzeitschrift
Im neuen Reich erschien: „Aber alles Verstehen ist ein Nachschaffen: wir verwandeln
uns in das, was wir begreifen; der Ton, der an unser Ohr schlägt, muß einen verwandten
in uns wecken, sonst sind wir taub; und die partielle Taubheit ist leider gemeines
Menschenloos. Die Philologie ist allumfassend, allverstehend, allbeleuchtend: die
Philologen stehen unter den Gesetzen endlicher Beschränkung.“ [27] Doch projektierte
Scherer nicht nur eine Intimkommunikation zwischen dem poetischem Werk und einer „auf
das feinste Verständnis“ gegründeten Philologie, die in ihrer Gesamtheit die Defizite
ihrer einzelnen und stets beschränkten Glieder ausgleichen sollte. Die immer wieder
angemahnte „peinliche Gewissenhaftigkeit“ für „Einzelheiten“ und noch die „kleinsten
Veränderungen“ markierte zugleich die Kompetenzen wie die Bedeutung der eigenen Zunft
und erhob den philologischen Umgang mit Texten zur Athletik: „Jedem Philologen wird
das Streben nach der Wahrheit an sich, nach dem Echten, Ursprünglichen, Authentischen,
eine Art von Sport, dem wir uns mit einem gewissen humoristischen Behagen hingeben.“
[28]
Seit Ende der 1880er Jahre wuchs die Sensibilität für die Beschränkungen und Grenzen
einer so betriebenen Literaturforschung. Denn was Scherer noch als eine „Art von Sport“
angesehen hatte, führte in den Arbeiten seiner Schüler und Kollegen zu teilweise skurrilen
Verrenkungen: Goethes Weinbestellungen wurden ebenso ermittelt (und im Archiv für
Litteraturgeschichte abgedruckt) wie die Augenfarbe der vermeintlichen Referenzpersonen
seiner fiktionalen Texte. Die gesamte Goethe-Philologie durchziehe das „unersättliche
Bestreben, die ‚Modelle’ des Dichters ausfindig zu machen, die Quellen seines Stoffs
aufzuspüren, an ‚Vorbildern’, ‚Vorlagen, ‚Reminiszenzen’ und ‚Parallelstellen’ Entlehnungen
und Beeinflussungen nachzuweisen“, kritisierte der Münchener Gymnasialprofessor Richard
Weltrich, „eine wilde Jagd nach diesen vermeintlichen Grundbestandteilen des Kunstwerks
ist los, und die willkürlichste Verdrehung, die künstlichste Hypothese, die gezwungenste
Deutung wird gewagt, wenn sie aufzuzeigen scheint, dass dem Dichter bei dieser oder
jener poetischen Gestalt oder Scene ein bestimmtes Erlebnis, eine persönliche Erfahrung,
dass ihm bei dieser oder jener Stelle der Satz, der Gedanke, der Vers eines anderen
Autors ‚vorgeschwebt’ habe.“ [29] Zwar ermöglichte die akribische Arbeit im Archiv
spektakuläre Entdeckungen wie etwa den Fund des Urfaust-Manuskripts durch Erich Schmidt
1887; die detaillierte Zergliederung der Überlieferung und ihre mikrologische Erforschung
aber rief zunehmende öffentliche Unzufriedenheit hervor. Die fast erdrückende Überlegenheit
der „stramm organisierten Schule mit dem bewußten Streben nach literarischer Diktatur“
fand gleichfalls Widerspruch. Gegen die Besetzung strategischer Positionen durch Wilhelm
Scherer und seine Schüler polemisierte etwa die Schrift Göthekult und Göthephilologie
von Friedrich Braitmaier, die zugleich eine aufschlussreiche Genealogie der modernen
Literaturforschung entwickelte: „Die trockene Philologie verbündete sich mit dem geistreichen
Feuilleton. W. Scherer heiratete H. Grimm. Scherer-Grimm zeugte E. Schmidt und die
zahlreiche Schar zünftiger Goethe-Philologen.“ [30]
Die Kritik an einer biographistisch und faktizistisch fokussierten Literaturgeschichtsschreibung
und die ungeklärten Probleme der Interpretation literarischer Texte verdichteten sich
seit Mitte der 1880er Jahre zu Programmen eines veränderten Umgangs mit Literatur.
Befördert durch einen disziplinenübergreifenden Prozess der „Theoretisierung“ der
Wissenserzeugung entstanden nun verschiedene Anläufe zur Begründung einer „Literaturwissenschaft“,
die ihren Gegenstand durch eine Theorie seiner Entstehung zu bestimmen und dessen
Genese zu beschreiben suchte. Die Philologie als Hilfswissenschaft nutzend, sollte
diese als „Prinzipienwissenschaft“ auftretende Textbehandlung gesetzmäßige Aussagen
über die Entstehungsbedingungen und Entwicklungsphasen ihres Gegenstandes ermöglichen:
„Die Aufgabe der Literaturwissenschaft ist die Constatirung von Gesetzen“, postulierte
Ernst Grosse in seiner Hallenser Dissertation Die Literatur-Wissenschaft 1887 und
unterschied „Gesetze der Statik“ („der wechselseitigen Abhängigkeit coexistierender
Erscheinungen“) und der „Dynamik“ („der Abhängigkeit der successiven Erscheinungen“).
[31] Auf induktivem Wege sollten die Gesetze der Statik aufgefunden und die Abhängigkeit
des „literarischen Werkes“ vom Charakter des Dichters, von seinem Organismus und von
seiner Umwelt, d.h. von Familie, Nation, Kultur, Klima nachgewiesen werden. Induktiv
seien auch die Gesetze der Dynamik festzustellen: Vom „Gesetz der Entwicklung des
einzelnen poetischen Werkes“ über das „Gesetz der Entwicklung des poetischen Schaffens
des Individuums“ bis zum „Gesetz der Entwicklung der poetischen Literatur überhaupt“.
[32] Da die Ermittlung eines solchen nomologischen Wissens aufgrund der komplizierten
und der Beobachtung zumeist unzugänglichen „Thatsachen“ schwierig, wenn nicht gar
unmöglich sei, schlug Ernst Grosse einen Weg vor, der Scherers Methode der „wechselseitigen
Erhellung“ entsprach. Aus „gleichartigen“, doch weniger komplizierten, evolutionär
früheren und leichter zugänglichen Fällen seien induktiv Gesetze zu ermitteln und
aus diesen nach den Vorgaben der Entwicklungsidee die Gesetzmäßigkeiten komplizierterer
Phänomene zu deduzieren. Aus der Beobachtung eines Mädchens, das seiner Puppe eine
Geschichte erzählt, könne die Literaturwissenschaft zumindest vorläufig mehr lernen
als aus den Werken Goethes: „Nur durch die Untersuchung jener einfachen Formen sind
die Gesetze aufzufinden, aus welchen die Gesetzmässigkeit der complicirteren Producte
einer späteren Entwicklungsstufe deducirt werden muss.“ [33] Grosse benannte auch
die bereits existierenden Wissenschaftszweige, auf deren Vorleistungen die sich formierende
Literaturwissenschaft zurückgreifen sollte. Um das Gesetz der „Beziehungen zwischen
der Eigenart eines Werks und der Eigenart des Dichters“ formulieren zu können, wäre
die Ethologie, also die „Wissenschaft von der Charakterbildung“ heranzuziehen. Die
Erforschung der „Relationen zwischen dem psychischen Leben des Dichters und dem Leben
seines Gesamtorganismus“ werde mit Hilfe der Beobachtungen von Physiologie und Pathologie
möglich (etwa über die „eigenthümlichen psychischen Vorgänge, welche nach dem Genuss
von Haschisch und Opium auftreten“). Die Frage nach den Einflüssen der Umwelt lasse
sich dank der Vorarbeiten von Soziologie und Ethnologie beantworten.
Der so entworfenen Ausrichtung der „Literatur-Wissenschaft“ auf Gesetzeserkenntnis
folgten in den 1890er Jahren weitere programmatische Schriften. Der neuen literarischen
Entwicklungen gegenüber aufgeschlossene Germanist Eugen Wolff (1863-1929) – er war
Mitbegründer der Vereinigung „Durch“ und verwendete schon 1886 den Begriff „Moderne“
zur Charakterisierung des Naturalismus – formulierte in den 1890 veröffentlichten
Arbeiten Das Wesen wissenschaftlicher Literaturbetrachtung und Prolegomena der litterar-evolutionistischen
Poetik die Grundsätze einer Beobachtungs- und Erklärungsperspektive, die er in einer
1899 publizierten Poetik ausführte. Dieses Grundlagenwerk, das laut Nebentitel Die
Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung bestimmen wollte, antwortete
auf Grosses Frage nach dem „Gesetz der Entwicklung der poetischen Literatur überhaupt“
und korrespondierte darin den von Ernst Elster 1897 vorgelegten Prinzipien der Litteraturwissenschaft
und Hubert Roettekens 1902 veröffentlichter Poetik. „Nachweis der Gesetze“ und „causale
Erklärung“ forderte auch der Anglist und Komparatist Wilhelm Wetz im Einleitungskapitel
„Ueber Begriff und Wesen der vergleichenden Literaturgeschichte“ seines Shakespeare-Buches
von 1890. [34] Aber auch der Altphilologe Oskar Froehde verlangte die „erforschung
der bedingungen, unter denen die litteratur entsteht, der ursachen, weshalb ein litteraturwerk
so und nicht anders beschaffen ist“. [35]
Die programmatischen Deklarationen zur Begründung der Literaturforschung als Gesetzeswissenschaft
erwiesen sich jedoch als wenig anschlussfähig. Die Poetiken von Ernst Elster und Hubert
Roetteken blieben Fragmente; Eugen Wolffs Grundlagenschrift Die Gesetze der Poesie
in ihrer geschichtlichen Entwicklung formulierte ebenso wenig wie Richard Maria Werners
Buch Lyrik und Lyriker (Hamburg 1890) Aussagen, die als Gesetze anzusehen wären. Die
letztgenannte Untersuchung dokumentiert exemplarisch die Schwachpunkte der Versuche,
„eine neue Ästhetik im naturwissenschaftlichen Sinne zu begründen und aus genauer
Beobachtung der Thatsachen zu einer Erfassung der Gesetze aufzusteigen“. [36] Zum
einen bildete das herangezogene Material nur eine Sammlung von Berichten über die
Stadien „Erlebnis“, „Stimmung“, „Befruchtung“, „inneres Wachstum“, „Geburt“ etc. im
Werdeprozess des lyrischen Gedichts – wobei die aus Briefen, Tagebüchern und anderen
persönlichen Aufzeichnungen von deutschen Autoren des späten 18. und 19. Jahrhunderts
gewonnenen Darstellungen nur Textzeugnisse darstellten, die keinen Anspruch darauf
erheben konnten, vom Literaturwissenschaftler beobachtete oder beobachtbare „Thatsachen“
zu sein. Zum anderen konnte die angekündigte Formulierung von Gesetzen nicht erreicht
werden: Die an der Physiologie orientierten Analogiebildungen – die etwa das Erlebnis
als „Samen“ oder „Eizelle“ bestimmten – konnten nicht verbergen, dass die zu erklärenden
poetischen Texte nur als unkommentierte Zitate bzw. Belege für den Abschluss eines
Werdeprozesses erschienen und weder in ihrer spezifischen Qualität noch in ihrer Genese
erklärt werden konnten.
Auch wenn die Unternehmen zur Verwissenschaftlichung der Literaturgeschichte heute
weitgehend vergessen sind, hinterließen sie doch ihre Spuren. Die „aufstellung einer
besondern, selbständigen litteraturwissenschaft“ [37] führte zu jenem veränderten
Umgang mit literarischen Texten, der im deutschen Sprachraum den Begriff einer Wissenschaft
erhielt und in seiner Konzentration auf einen spezifisch bestimmten Objektbereich
das Gegenstandsfeld dieser Wissenskultur neu bestimmte. Hatte die klassische Philologie
des 19. Jahrhunderts als zentrales Erkenntnisziel „die kenntnis der alterthümlichen
Menschheit selbst“ fixiert und literarische Dokumente als Mittel des Zugangs dazu
aufgefasst, [38] erhob man nun die literarische Qualität von Texten zum primären Forschungsobjekt:
„dem litteraturforscher ist die litteratur selbstzweck: er will aus ihr nicht das
wesen der sprache oder der politischen vorgänge, sondern das wesen der litteratur
selbst ergründen“. [39] Damit begann jedoch nicht nur eine Klärung der Beziehung zu
philogischen und historischen Textumgangsformen. Das Projekt, die Literatur als solche
zu untersuchen und wissenschaftlich zu erforschen, setzte Distanzierungsweisen voraus,
die eine theoretische Perspektive zum Objekt wie zur eigenen Beobachtungspraxis ermöglichten.
Die sich in den Texten der 1890er Jahre formierende „Prinzipienwissenschaft der Litteraturgeschichte“
[40] bzw. literaturwissenschaftliche „Prinzipienlehre“ [41] sollte – zumindest dem
programmatischen Anspruch nach – nicht nur die spezifische Seinsweise literarischer
Texte, sondern zugleich auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen reflektieren:
Zum einen durch die Klärung von Aufgabe und Gliederung sowie von Inhalt und Umfang
wissenschaftlicher Textumgangsformen; zum anderen durch die Explikation des Weges,
auf dem die Forschung zu ihren Resultaten gelangte. In der Einheit von Gegenstandskonstitution
und Methodologie wurde die „prinzipienwissenschaftliche“ Beobachtung der neuen Wissenskultur
zum Ausgangspunkt eines Reflexionsprozesses, der erst später Begriff und Realisierung
finden sollte. Seit Boris Tomashewskijs Teorija literatury (1925) und der von formalistisch-strukturalistischen
Verfahren profitierenden Theory of Literature von Warren Austin und René Wellek (1945/49)
verfügt die disziplinär organisierte Literaturforschung über ein (auch terminologisch
fixiertes und von anderen Bereichen abgegrenztes) Arbeitsfeld, das die konzeptionellen
Grundlagen der wissenschaftlichen Beobachtung von literarischer Kommunikation ebenso
thematisiert wie die dazu angewendeten Methoden und Verfahren.
Die Versuche zur Begründung einer „Prinzipienwissenschaft“ brachten also Textumgangsformen
eines neuen Typs hervor, auch wenn sie nicht als deren Fundament dienen konnten. Sie
erzeugten zugleich ein Problem, an dem die „Methodendiskussion“ der Literaturwissenschaft
bis weit ins 20. Jahrhundert laborierte. Indem die grundlegenden Poetologien eine
intensionale „Wesensbestimmung“ ihres Gegenstandes in Form einer Theorie seiner Produktion
bzw. Entstehung lieferten und keine extensionale Ab- und Eingrenzung vornahmen, verhinderten
sie eine Festlegung, was denn unter „Literatur“ bzw. „Literaturwissenschaft“ zu verstehen
sei. Statt ihre Beobachtungspraxis zum Objekt theoretischer Reflexion zu machen, vervielfältigten
sie die Formen eines Umgangs mit Literatur, der zirkuläre Strukturen aufwies. Denn
durch entstehungstheoretische Zielvorgaben (Literatur als Emanation eines Erlebens
oder eines [transpersonalen] Geistes, als Resultat der Prägung durch Stamm und Landschaft,
als Abbild gesellschaftlicher Verhältnisse, als Form eines reglementierenden Diskurses
etc.) ließ sich jede Beschäftigung mit literarischen Texten so steuern, dass die vorausgesetzte
Definition von Literatur bestätigt werden konnte. Gleiches gilt für die Methodologie.
Auch wenn die Programme einer „verwissenschaftlichten“ Literaturforschung nirgends
klar sagten, wie die postulierten „gesetze der litterarischen forschung“ beschaffen
sein sollten, verpflichteten sie die nachfolgende wissenschaftliche Behandlung von
Texten darauf, die behaupteten Entstehungsmomente als Untersuchungsziel anzunehmen
und zu verfolgen – was im 20. Jahrhundert in zahlreichen und immer schneller aufeinander
folgenden Varianten betrieben wurde.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
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Die Begründung der „Literatur-Wissenschaft“
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