„Moderne Literaturgeschichte“ am Seminar für deutsche Philologie
Als Ende der 1860er Jahre nahezu alle Universitäten ordentliche Professuren für deutsche
   Sprache und Literatur eingerichtet hatten, war die Philologie als akademisch institutionalisierte
   Form des Umgangs mit literarischen Texten etabliert. Ihr personaler Repräsentant war
   der Lehrstuhlinhaber, dessen Pflicht als Ordinarius publicus darin bestand, jede Woche
   eine öffentliche und unentgeltliche Vorlesung über sein Fach zu halten; neben ihm
   wirkten der planmäßige (d.h. besoldete) Extraordinarius und Privatdozenten. Ihre akademische
   Qualifikation erfolgte durch die Promotion – die zum Führen des Doktortitels berechtigte
   – sowie durch die Habilitation, mit der man die venia legendi und also das Recht erwarb,
   Vorlesungen in einem definierten Fachgebiet zu halten. Da die Verleihung der venia
   legendi durch die Fakultäten vollzogen wurde, lag ein wesentliches Element der Wissenschaftsentwicklung
   in den Händen der autonom entscheidenden Universitätsangehörigen. Studierende der
   deutschen Philologie besuchten die Lektionen und Übungen jedoch nicht, um sich auf
   Tätigkeiten im Schuldienst vorzubereiten – bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
   hatte die Klassische Philologie die Ausbildung von Gymnasiallehrern monopolisiert.
   In der schulischen Praxis war es die Regel, dass der Lehrer für die alten Sprachen
   das Fach Deutsch ohne besondere nationalphilologische Qualifikation miterteilte. Der
   ausgebildete Kandidat des höheren Lehramts, der als „Philologe“ bezeichnet wurde,
   galt als kompetent auch für die Muttersprache und übertrug die zentralen Themen des
   altsprachlichen Unterrichts (Grammatik, Rhetorik, Poetik) auf den Deutschunterricht,
   auf den ohnehin nur zwei Wochenstunden entfielen, während für Latein 14 und für Griechisch
   6 Wochenstunden vorgesehen waren. [14] Diese Dominanz der Klassischen Philologie stieß
   bei Germanisten und Vertretern der sich ausbildenden Neuphilologien nur selten auf
   Kritik. Im Gegenteil: Die Überzeugung, dass humanistische Bildung und wissenschaftliche
   Kompetenz nur durch das Studium der alten Sprachen zu erwerben seien, blieb unangefochten
   und wurde auch von führenden Vertretern der deutschen Philologie nicht in Frage gestellt:
   „Es ist durchaus nicht wünschenswert, dass der Studirende schon auf der Universität
   die deutsche Philologie zu einem Hauptstudium mache. Ohne die philologische Vorbildung
   an den alten Sprachen ist die Beschäftigung mit dem sogenannten Mittelalter, mit den
   neuern Sprachen und Literaturen nichts; sie bleiben ohne den Gegensatz des klassischen
   Alterthums und ohne die Möglichkeit der Vergleichung in den allerwesentlichsten Punkten
   unverständlich.“ [15]
Das so zementierte Bildungsmonopol der Klassischen Philologie ließ in der Universitätsgermanistik
   nur wenig bzw. kein Interesse an einer Orientierung auf das Erziehungssystem als Leistungsempfänger
   entstehen. Erst mit den Veränderungen des Bildungssystems und der Aufwertung der „neueren
   Sprachen“ wie der „Realien“ erfolgte eine (langsame) Umstellung der universitären
   Beschäftigung mit deutschen Texten – was sich nicht zuletzt in der Einrichtung und
   der Binnendifferenzierung von Seminaren niederschlug. Diese „Pflanzstätten“ bildeten
   seit der ersten, 1858 in Rostock erfolgten Gründung einen wesentlichen Garanten für
   den intensivierten und modernisierten Umgang mit Literatur. Wie sich die universitäre
   Lehre in ihnen gestaltete und intern differenzierte, dokumentiert der Bericht von
   Wilhelm Scherer (1841-1886) über das von ihm begründete Seminar für deutsche Philologie
   an der Universität Straßburg: „Während des ersten Semesters meiner hiesigen Wirksamkeit
   (Winter 1872/73) bestand das Seminar nur in den wöchentlich zweistündigen Übungen
   die ich angekündigt hatte und deren Zweck die sichere Einübung der gothischen und
   althochdeutschen Grammatik war, die ich in parallelgehenden Vorlesungen behandelte.
   Es hatten sich 14 Theilnehmer gemeldet, ebenso viele als die genannte Vorlesung hörten,
   und Fleiß und Betheiligung war so groß, daß ich von Neujahr ab für 6-8 Vorgeschrittene
   noch besondere Übungen veranstaltete, in denen Gothisch und Altsächsisch getrieben
   wurde. Im Laufe des Sommersemesters 1873 konnte bereits das Seminarlocal im Schlosse
   benutzt werden und eine kleine Bibliothek bot das dringendste dar für das Studium
   und die Vorbereitung zu den Übungen. In diesem Semester versuchte ich auch zuerst
   die Einrichtung zweier Abtheilungen des Seminares, wovon die eine der altdeutschen,
   die andere der modernen deutschen Philologie gewidmet war. In jener wurde (zweistündig)
   der arme Heinrich von Hartmann von Aue gelesen und interpretirt zum Behufe der Einübung
   mittelhochdeutscher Grammatik und mittelhochdeutschen Wortgebrauchs [...].“ [16]
Die dominierenden Arbeitsfelder und –formen im Umgang mit Texten sind hier klar benannt.
   Sichere Kenntnis des sprachlichen Regelsystems bildete das Fundament einer darauf
   aufbauenden „Interpretation“. Diese widmete sich Texten, die mit den Instrumentarien
   einer an der klassischen Philologie geschulten Analysemethode zu behandeln waren und
   deren kritische Untersuchung zu tieferem Verständnis von Sprach- und Wortgebrauch
   führen sollten. Wesentliche Vermittlungsformen blieben (dem Vorbild der klassischen
   Philologie entsprechend) Vorlesung und Übung. – Folgte das Straßburger Seminar in
   dieser Hinsicht bereits vorhandenen universitären Einrichtungen, bildete die hier
   durch Wilhelm Scherer begonnene Beschäftigung mit der neuhochdeutschen Literatur ein
   Novum. Der Seminargründer, der die „moderne Abtheilung des Seminares“ als „Quelle
   steigenden Genusses“ und „Mittelpunct des anregendsten Studiums für mich und die besten
   meiner Zuhörer“ bezeichnete, markierte selbst den besonderen Status des hier geprobten
   Umgangs mit der literarischen Überlieferung: „Die moderne Litteraturgeschichte wird
   nirgends wie hier streng wissenschaftlich in besonderen Übungen getrieben. Ich halte
   dieselbe nur eine Stunde wöchentlich ab, aber die Zeit reicht vollkommen aus, denn
   an die eigene Arbeit der Theilnehmer werden hier größere Anforderungen gestellt als
   in den altdeutschen Übungen. Während in den letzteren Texte interpretirt und den Einzelnen
   die Vorbereitung nur auf je eine Stunde zugemuthet wird, mußte in den modernen Übungen
   bisher noch stets gründliche eingehende und ausgebreitete Forschung verlangt werden.
   Im Sommersemester 1873 haben wir uns mit Lessing beschäftigt. Lessings Jugend im äußeren
   Umriß machte den Gegenstand des ersten Vortrages aus, dann kamen Lessings Verhältnis
   zur Anakreontik, Lessings Verhältnis zu Gellert in der poetischen Erzählung, die Entstehungsgeschichte
   des Laokoon, endlich Lessings Fabeln in Bezug auf ihren moralischen Gehalt zur Sprache.
   [...] In den starken Anforderungen, welche bisher an die Theilnehmer gestellt werden
   mußten, erblicke ich eine Übelstand, dessen Hebung ich mir ernstlich angelegen sein
   lasse. Ich hoffe, später auch auf diesem Gebiete zur Interpretation von Texten übergehen
   zu können. Dies wird aber erst dann der Fall sein, wenn die Seminarbibliothek reicher
   mit Werken der neueren deutschen Literatur versehen sein wird. Eine streng wissenschaftliche
   Interpretation Goethescher Gedichte z.B. setzt das Vorhandensein einer vollständigen
   Goethebibliothek voraus, wie sie weder die Universitäts- noch die Seminarbibliothek
   bis jetzt besitzt.“ [17]
Damit fixierte Wilhelm Scherer – der vier Semester deutsche Philologie sowie indogermanische
   Sprachwissenschaft in Wien studiert hatte und 1860 nach Berlin gegangen war, um bei
   Moriz Haupt und Karl Müllenhoff „die Methode“ zu lernen [18] – zentrale Innovationen
   in Gegenstandsbereich und Verfahren der Literaturforschung. Im Zentrum der „streng
   wissenschaftlich“ getriebenen „modernen Litteraturgeschichte“ standen die Leistungen
   bedeutsamer neuhochdeutscher Autoren, die in ihrer biographischen Entwicklung wie
   in ihren Beziehungen zur literarisch-kulturellen Tradition beschrieben und erklärt
   werden sollten. Voraussetzung dafür war ein umfangreiches und möglichst lückenloses
   Wissen über Texte sowie über Text-Kontext-Beziehungen. Sowohl für die Bereitstellung
   eines materialen Wissens wie für die Schaffung von Verfahren für einen regelgeleiteten
   Umgang mit der neueren Literatur versprach der damals 32jährige Scherer zu sorgen.
   Als er 1886 erst 45jährig nach unermüdlichem Wirken starb – seit 1877 erster ordentlicher
   Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität,
   an der er die Weichenstellungen für das 1887 eröffnete Germanische Seminar vornahm
   – hatte er dieses Versprechen partiell eingelöst. Mit seinem Lehrer Karl Müllenhoff
   hatte er schon 1864 Denkmäler deutscher Poesie und Prosa aus dem VIII. - XII Jahrhundert
   herausgegeben und eine Reihe von historischen Arbeiten über die Literatur des Mittelalters
   und der Reformationszeit verfasst, als er sich auf die Goethe-Forschung zu konzentrieren
   begann und 1883 schließlich den Versuch unternahm, die Geschichte der deutschen Literatur
   von den Anfängen bis zu Goethes Tod darzustellen. In dieser weit verbreiteten, im
   20. Jahrhundert durch Oskar Walzel mehrfach ergänzten Geschichte der deutschen Literatur
   gab Scherer nicht nur die Muster einer öffentlichkeitswirksamen Literaturhistoriographie
   vor, [19] sondern fixierte auch seine Theorie von einer Periodizität literarischer
   „Blütezeiten“, mit der er das Grundgesetz der deutschen literarischen Entwicklung
   gefunden zu haben glaubte. (Aus der zeitlichen Differenz zwischen dem Höhepunkt höfischer
   Dichtung um 1200 und Weimarer Klassik um 1800 schloss Scherer auf eine 600jährige
   Periodizität literarischer „Blütezeiten“ und behauptete deshalb einen ersten Höhepunkt
   germanischer Literatur in der Zeit um 600 – obwohl er als Beweis dafür nur das altenglische
   Beowulf-Epos angeben konnte, das heute auf ungefähr 800 datiert wird. Als „natürliche“
   Ursachen dieser Wellenbewegung nahm er einen 300jährigen Zyklus zunehmender bzw. abnehmender
   Geisteskräfte des deutschen Volkes an; gleichsam eine „gesetzmäßige“ Erschlaffung
   nach Perioden höchster poetischer Entfaltung. Obwohl er selbst eingestehen musste,
   „von den Feinden nur Spott, von den Freunden keine entschiedene Beistimmung geerntet
   zu haben“, war er von ihrer Gültigkeit überzeugt, da sie „deductiv aus dem Wesen der
   Vererbung und des Geschlechtsverhältnisses zu begründen und für die Beurtheilung aller
   menschlichen Entwicklung als ein Leitfaden zu benützen“ sei. [20]) In seiner 1868
   vorgelegten Arbeit Zur Geschichte der deutschen Sprache lieferte er wichtige Beiträge
   zur Sprachwissenschaft und bestimmte die „sorgfältige Beobachtung und Fixierung“ der
   „historischen Gesetze“ als Ziel jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit kulturellen
   Phänomenen. [21] Seine postum durch Richard Moritz Meyer herausgegebene Poetik unternahm
   einen Versuch zur Begründung der Literaturforschung auf sozial- bzw. kulturhistorischer
   Basis und bezog in Überlegungen zum „litterarischen Verkehr“ auch die Distribution
   und Konsumtion von Texten in die Beobachtung ein. Zugleich stellte er der Philologie
   übergreifende Bildungsaufgaben (die bis zu einem „System der nationalen Ethik“ führen
   sollten) und bemühte sich durch Beiträge in Zeitungen bzw. Zeitschriften um eine Popularisierung
   der expandierenden Literaturforschung. Vor allem aber wirkte Scherer als Wissenschaftsorganisator
   wie als Lehrer und Förderer von Philologen, die zahlreiche Lehrstühle an Hochschulen
   im deutschen Sprachraum besetzen sollten. Sein Schüler Erich Schmidt (1853-1913) war
   bereits im Alter von 27 Jahren Ordinarius in Wien und 1885 Direktor des Goethe-Archivs
   in Weimar, bevor er 1887 als Nachfolger Scherers nach Berlin ging, wo er Rektor der
   Universität bei deren Hundertjahrfeier und 1906 Präsident der Goethe-Gesellschaft
   wurde. Jakob Minor (1855-1912) arbeitete 1878/79 bei Karl Müllenhoff und Wilhelm Scherer
   in Berlin, um 1888 Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Wien zu werden
   und hier bis zu seinem Tode überaus ertragreich zu wirken. Konrad Burdach (1859-1936),
   der sich während seines Berliner Studiums an Müllenhoff und Scherer anschloss, wurde
   von seinem Ordinariat in Halle 1902 auf eine der drei kaiserlichen Stiftungsprofessuren
   der Preußischen Akademie der Wissenschaften berufen. (Die Bedeutung dieser allein
   der Forschung zugedachten Stelle wird klarer, wenn man sich an die Inhaber der beiden
   anderen Stellen erinnert: Jakob van’t Hoff und Albert Einstein.) Anton Emanuel Schönbach
   (1848-1911) habilitierte sich 1872 bei Scherer und wurde 1873 zum Direktor des Seminars
   für Deutsche Philologie an der Universität Graz ernannt, des ersten in der österreichisch-ungarischen
   Monarchie. Auch Richard Maria Werner (1854-1913), seit 1879 Vorsteher der „neueren
   Abteilung“ des Grazer Seminars und seit 1886 ordentlicher Ordinarius an der Universität
   Lemberg, hatte bei Scherer in Straßburg und Berlin studiert. – Möglich wurde diese
   erfolgreiche Personalpolitik durch Scherers dichte Vernetzung in einer sich ausweitenden
   Wissenschaftslandschaft: Mit Karl Müllenhoff und Elias von Steinmeyer gab er die Zeitschrift
   für deutsches Alterthum heraus (und sorgte für die Erweiterung des Namens um die noch
   heute gültige Angabe und für deutsche Literatur); mit dem Straßburger Anglisten Bernhard
   ten Brink begründete er die Schriftenreihe Quellen und Forschungen zur Sprach- und
   Culturgeschichte der germanischen Völker (die noch heute im Verlag Walter de Gruyter
   erscheint). Er projektierte die von der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar in
   Auftrag gegebene und seit 1887 erscheinende „Weimarer Ausgabe“ der Werke Goethes,
   verwaltete nach der lang erwarteten und zum Jahrhundertereignis stilisierten Öffnung
   des Goethe-Nachlasses den Umgang mit diesen Quellen und eroberte seinem auch damit
   betrauten Schülerkreis eine nicht zu unterschätzende Machtposition innerhalb der Germanistik.
Scherers Hinweise auf die „Universalität erfahrungsmäßiger Betrachtung“ [22] wurden
   von der nachfolgenden Wissenschaftsentwicklung jedoch zumeist ebenso übersehen wie
   seine poetologischen Differenzierungen, die im Begriff des „lyrischen Ich“ noch immer
   subkutan präsent sind oder mit der Unterscheidung zwischen direkter und indirekter
   Figurencharakteristisierung spätere Entwicklungen in der Narratologie vorwegnahmen.
   [23] Die wissenschaftshistorisch fatale Ignoranz ist vor allem dem Ausbleiben einer
   stringent formulierten Wissenschaftstheorie sowie der konzeptionell und methodisch
   heterogenen, allein in ihrer Ablehnung der Scherer-Schule geeinten Literaturforschung
   der sog. Geistesgeschichte zuzurechnen. Denn diese sich seit etwa 1910 formierende
   Bewegung eines neuen Umgangs mit der literarischen Überlieferung positionierte sich
   in der wissenschaftlichen wie in der kulturellen Öffentlichkeit mit Erfolg, indem
   sie den literaturtheoretischen wie den literarhistoriographischen Innovationen Scherers
   wie den Leistungen seiner Nachfolger den Stempel des „Positivismus“ aufdrückte. Dabei
   war schon den Zeitgenossen unklar, worum es sich bei dem vielfach zur Stigmatisierung
   gebrauchten Begriff eigentlich handelte. Für Wilhelm Scherer – aber auch für den mit
   ihm befreundeten Philosophen Wilhelm Dilthey, den Sprachwissenschaftler Hermann Paul,
   den Historiker Karl Lamprecht oder die Völkerpsychologen Moritz Lazarus und Heymann
   Steinthal – bestand die spezifische Wissenschaftlichkeit des eigenen Tuns in einer
   durchgehenden empirischen Fundierung, die durch historische und vergleichende Beobachtung
   von Phänomenen die Muster und Gesetzmäßigkeiten ihrer Entstehung und Wirkung ermittelte.
   Die moderne empirische Poetik sollte, so Scherer, den normativ-präskriptiven Poetiken
   des Idealismus gegenüberstehen „wie die historische und vergleichende Grammatik seit
   J. Grimm der gesetzgebenden Grammatik vor J. Grimm gegenübersteht“. [24] Um dieses
   Ziel zu erreichen und auf Basis beobachtbarer „Gleichförmigkeiten der menschlichen
   Lebenserscheinungen“ eine kausale Erklärung kultureller Phänomene geben zu können,
   schlug Scherer die von der Sprachwissenschaft seiner Zeit entwickelte Methode der
   „wechselseitigen Erhellung“ vor. Ausgangspunkt dieses Verfahrens war die Einsicht
   in die Regelhaftigkeit von Entwicklungsprozessen, die zu unterschiedlichen Zeiten
   und in verschiedenen Sprachen abliefen. Unterstellte man die generelle Gleichförmigkeit
   dieser Abläufe, dann erlaubte die Kenntnis von zeitlich jüngeren und vollständig dokumentierten
   Entwicklungen, die in fernerer Vergangenheit vor sich gegangenen und nur lückenhaft
   überlieferten Vorgänge durch Analogiebildung zu rekonstruieren. Umgekehrt konnte die
   Kenntnis früherer Abläufe das Verständnis gegenwärtiger und noch unabgeschlossener
   Prozesse befördern. Letztes Ziel dieser Methode war die Einsicht in kausale Zusammenhänge:
   „Wir hoffen durch die wechselseitige Beleuchtung vielleicht räumlich und zeitlich
   weitgetrennter, aber wesensgleicher Begebenheiten und Vorgänge sowohl die großen Processe
   der Völkergeschichte als auch die geistigen Wandlungen der Privatexistenzen aus dem
   bisherigen Dunkel unbegreiflicher Entwicklung mehr und mehr an die Tageshelle des
   offenen Spieles von Ursache und Wirkung erheben zu können“. [25] Die postum veröffentlichten
   Poetik-Vorlesungen wenden dieses Verfahren auf eine komparatistische Literaturforschung
   an: „Das vergleichende Verfahren verbindet sich naturgemäß mit der Methode der wechselseitigen
   Erhellung, welche z.B. in der Sprachwissenschaft fruchtbar angewandt worden ist. Das
   Deutliche, Vollständige, besser Bekannte dient zur Erläuterung des Undeutlichen, Unvollständigen,
   weniger Bekannten; namentlich die Gegenwart zur Erläuterung der Vergangenheit. Es
   dienen ferner, und dies ist ein wichtiges Element, die einfachen Erscheinungen, welche
   die Poesie der Naturvölker noch in der Gegenwart lebendig bewahrt, zur Erkenntniß
   und Erläuterung der älteren Stufen, über welche die Poesie der Culturvölker zur Höhe
   gelangte.“ [26]
Trotz zahlreicher grundlegender Beiträge zu Sprachwissenschaft, Mediävistik und neuerer
   deutscher Literaturgeschichte hinterließ Wilhelm Scherer keine zusammenhängende Formulierung
   seiner wissenschaftstheoretischen und methodologischen Prinzipien. Auch die Mehrzahl
   seiner Schüler, die er mit großem organisatorischen Geschick auf Lehrstühle in Deutschland,
   Österreich und in der Schweiz zu platzieren wusste, war sich über sein kognitives
   Vermächtnis nicht einig. Das Fehlen eines diskursiv gesicherten Fundaments für die
   sich rasch ausweitende Beschäftigung (insbesondere mit neuerer Literatur) sollte Folgen
   haben. Da es in der wissenschaftlichen Bearbeitung der literarischen Überlieferung
   nicht mehr genügte, sich auf eine wie auch immer bestimmte „Methode“ zu berufen, wuchs
   das Interesse an Reflexions- und Begründungstheorien, die man aus anderen text- und
   zeicheninterpretierenden Disziplinen importierte. Die ihrer Funktion inzwischen gewisse
   Disziplin begann zugleich, Leistungen für andere Bereiche der Gesellschaft wahrzunehmen.
   Denn spätestens seitdem 1890 eine Korrektur der preußischen Bildungspolitik eingeleitet
   wurde, die das Realschulwesen aufwertete und dem humanistischen Gymnasium das Privileg
   nahm, den Zugang zu den Universitäten zu ermöglichen, avancierte Nationalbildung zum
   Schlagwort für den Ausgleich zwischen humanistischem Gymnasium, Realgymnasium und
   Oberrealschule. Die Modernisierung des höheren Schulwesens führte allmählich auch
   zu einem Bedeutungszuwachs der deutschen Philologie an den Universitäten – bildete
   sie doch die Lehrer aus, die den gymnasialen Deutschunterricht durchzuführen hatten.
   Ergebnis dieser vielschichtigen Problemlage waren Versuche zur Begründung einer über
   Philologie und Literaturgeschichtsschreibung hinausgehenden „Literaturwissenschaft“,
   die weitreichende Weichenstellungen vornahmen: Zum einen orientierten sich die neuen,
   auch im Namen als „wissenschaftlich“ kenntlich gemachten Textumgangsformen an Grundlagenwissen
   und Kompetenzen anderer Disziplinen (und richteten sich in den 1890er Jahren auf die
   gerade institutionalisierte experimentelle Psychologie, ehe sie im Jahrzehnt nach
   1900 auf Konzepte aus der Philosophie umstellen sollten). Zum anderen übernahmen die
   neuen Programme die aus der philosophischen Wissenschaftsklassifikation stammende
   Differenzierung zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, welche die
   Bedingungen für Akzeptanz und Plausibilität geisteswissenschaftlicher Wissensansprüche
   radikal veränderte.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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   „Moderne Literaturgeschichte“ am Seminar für deutsche Philologie
   
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