Die „geistesgeschichtliche Wende“ und ihre Folgen. Differenzierungen

Problem- und Ideengeschichte, „Gestalt“-Biographik und Formanalyse
Stammesethnographische Literaturgeschichte
Soziologische und sozialgeschichtliche Ansätze
1905 stellte der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833-1911) auf Drängen seiner Schüler vier teilweise weit früher entstandene Aufsätze zusammen und veröffentlichte sie unter dem Titel Das Erlebnis und die Dichtung. Als literaturgeschichtliche Applikation der von ihm mitbegründeten „verstehenden Geisteswissenschaft“ bildet diese Aufsatzsammlung im Verbund mit der 1904 veröffentlichten Schrift Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft des Romanisten Karl Voßler den Auftakt einer später als „Geistesgeschichte“ bezeichneten Strömung, die als Integrationsprogramm der historischen Wissenschaften die Entwicklung der Neugermanistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich mitbestimmen sollte (Rosenberg 1981, S. 139-202; König/ Lämmert 1993). In dezidiertem Unterschied zur philologischen Akkumulation faktischen Wissens und zum kausalgenetischen „Erklären“ der Textgeschichte demonstrierten Diltheys Texte ein hermeneutisches „Verstehen“ von Leben und Werk am Beispiel von vier Autoren, denen paradigmatische Bedeutung für den Gang der neueren deutschen Literatur zugeschrieben wurde: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Sowohl in der Konzeption als auch in der Darstellungsform bot Diltheys Sammlung eine Vielzahl von Anschlussmöglichkeiten: Die nachfolgende „Problem“- bzw. „Ideengeschichte“ konnte sich auf seine philosophisch angeleitete Deutung literarischer Werke ebenso berufen wie auf die von ihm demonstrierte Revision der in der liberalen Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts praktizierten Werturteile. Von Diltheys Überlegungen zur heuristischen Zusammenfassung altersgemeinschaftlich verbundener Autoren profitierte die sog. geistesgeschichtliche Generationentheorie, die in Karl Mannheims soziologisch fundierten Überlegungen zum Generationen-Begriff neue Impulse erfahren sollte; seine Konstruktion eines literaturgeschichtlichen Kontinuums zwischen 1770 und 1830 bot später Raum für die Rede von einer spezifisch „Deutschen Bewegung“, die als Einspruch gegen westeuropäische Aufklärung ausgedeutet und nationalistisch instrumentalisiert werden konnte. – Noch bevor in Rudolf Ungers Programmschrift Philosophische Probleme der Neueren deutschen Literaturwissenschaft von 1908 und den nur wenige Jahre später folgenden Monographien von R. Unger, Friedrich Gundolf, Fritz Strich sowie in der stammesethnographischen Literaturgeschichte Josef Nadlers die Gründungsurkunden einer neuen, seit den 1920er Jahren als „Geistesgeschichte“ bezeichneten Literaturforschung vorlagen, dokumentierte Diltheys Aufsatzsammlung die Erfolgsbedingungen eines neuen Umgangs mit der literarischen Überlieferung: Nicht mehr editionsphilologische Sicherung und mikrologische Analyse der Quellen, sondern weltanschauliche Deutung in Form ganzheitlicher Synthesen stand auf der Tagesordnung.
Gründe und Konsequenzen.
Ursachen wie Folgen der später als „geistesgeschichtliche Wende“ deklarierten Modernisierung der universitären Literaturforschung in Deutschland werden vor dem Hintergrund des tief greifenden Wandels im Kunst- und Wissenschaftssystem nach 1900 verständlich. Die neuen Textbehandlungsformen partizipierten einerseits an einer Kulturkritik, die im Protest gegen platten Fortschrittsglauben und Rationalismus ihren Ausgang nahm und in ästhetizistische Hermetik und mystifizierende „Lebens“-Ideologien münden sollte (Lindner 1994, S. 5-144; Viehöfer 1988; Hübinger 1996). Sie beteiligten sich andererseits an der unter dem Signum einer „verstehenden“ Geisteswissenschaft vollzogenen Lösung von einem Methodenideal, das mikrologische Detailforschung und kausalgenetische Erklärung favorisiert hatte und nun als „positivistisch“ disqualifiziert wurde. Zu einer „Revolution in der Wissenschaft“ exponiert, sollte der Bruch mit „Historismus“, „Relativismus“ und fachwissenschaftlichem „Spezialistentum“ sowie mit „Intellektualismus“ und „Mechanismus“ das Erbe der Romantik antreten und zum Wiedergewinn einer verlorenen „Ganzheit“ führen. [45] Profitieren konnte die geistesgeschichtliche Literaturforschung von der wachsenden Selbstreflexivität des Kunst- und Literatursystems: Die mit der Neuromantik einsetzende Umkehr „zu Symbol und Metaphysik, zu Intuition und Kosmologie, zu Geheimnis und Mythos, zu Geist und Überpersonalität“, [46] die wie die zeitgenössische Bildungskritik an unterschiedlichen Projekten einer „geistigen Revolution“ laborierte, [47] beförderte nicht nur eine Renaissance lebensphilosophischer Konzepte, die bis zur politischen Zäsur des Jahres 1933 (und darüber hinaus) anhielt und einer problem- wie ideengeschichtlich interessierten Literaturforschung leitende Begriffe zur Verfügung stellte. In den Berührungen zeitgenössischer Poeten mit der universitären Literaturwissenschaft entstanden zugleich fruchtbare Austauschbeziehungen, die von privat-freundschaftlichen Verbindungen (wie etwa zwischen dem philologisch promovierten Hugo von Hofmannsthal und Konrad Burdach, Walter Brecht oder Josef Nadler) bis zur Konstitution eines Künstler und Wissenschaftler integrierenden Kreises um Stefan George reichten (Kolk 1998; König 2001). Frucht dieser Verbindung war die Entdeckung einer Gegenwartsliteratur, die spezifische Züge aufwies: Der wissenschaftlichen Bearbeitung als würdig erwiesen sich vor allem Werke, die das Kriterium formaler Geschlossenheit erfüllten, also ein hohes Formbewusstsein verrieten oder sich in klassizistische Traditionen stellten. Die Wissenschaftsfähigkeit noch lebender Autoren und ihrer Texte steigerte sich, wenn zu formaler Insistenz geistesgeschichtlich bearbeitbare Inhalte traten (etwa Bezüge zu Philosophie und Kunst, Mythenrezeption, Geschichtsthematik etc). Gewinner dieser neu zentrierten Aufmerksamkeit waren Autoren wie Paul Ernst und Gerhart Hauptmann, vor allem aber Hugo von Hofmannsthal, Stefan George und Thomas Mann, deren Werke bereits in den 1920er Jahren zu Themen germanistischer Dissertationen aufstiegen. Demgegenüber hatten die Literaten des Expressionismus schlechte Karten: Abgesehen vom Sonderfall Fritz von Unruh und dem Interesse Walter Muschgs für expressionistische Innovationen gelangten ihre Texte nicht bzw. nur selten in den Fokus der geistesgeschichtlichen Literaturbeobachtung.
Die heterogenen und sich rasch entfaltenden Konzepte der sog. Geistesgeschichte repräsentierten und katalysierten eine fortschreitende Binnendifferenzierung innerhalb der universitären Literaturwissenschaft, die in der Lösung von philologischer wie literaturhistoriographischer Beschränkung seit den 1890er Jahren ihren Ausgang genommen hatte. Mit ihr begann eine folgenschwere Dissoziation des Methoden- und Wertekanons des Faches, die seit 1913 fachintern und öffentlich diskutiert wurde. Nachdem Erich Schmidt, prominenter Nachfolger Wilhelm Scherers auf dem Berliner Lehrstuhl, und kurz zuvor der Wiener Ordinarius Jakob Minor verstorben waren und der breite Erfolg von Goethe-Biographien der „fachfremden“ Gelehrten Georg Simmel und Houston Stewart Chamberlain die Grenzen der disziplinären Literaturforschung demonstriert hatte, setzten Schuldzuweisungen an die vormals gerühmten Repräsentanten und ihren vermeintlichen „Positivismus“ ein. [48] In der Kulturzeitschrift Der Kunstwart konstatierte man eine „Krisis in der Literaturwissenschaft“ und den „Bankrott der Literaturgeschichte“; in der Schaubühne berichtete Julius Bab über den „Germanistenkrach“. [49] Als Symptome der vielfach festgestellten „Krisis“ galten Sterilität der Forschung, die Richtungskämpfe verschiedener Theorien und das Defizit eines einheitlichen methodologischen Fundaments. Die Auseinandersetzungen um die Neubesetzung des Lehrstuhls von Erich Schmidt am Berliner Germanischen Seminar – die sich jahrelang hinzogen und erst durch die Berufung von Julius Petersen im Jahre 1920 entschieden werden sollten – und die 1926/27 zu klärende Nachfolge für Franz Muncker in München zeigten, welche Komplikationen die zunehmende Vervielfältigung von Wissensansprüchen hervorriefen (Osterkamp 1989; Höppner 1993). Als der Wiener Landesschulinspektor Oskar Benda 1928 seine „Einführung“ Der gegenwärtige Stand der Literaturwissenschaft veröffentlichte, musste er als Ergebnis der „um 1910 offenkundig gewordenen Götterdämmerung des literaturwissenschaftlichen Positivismus“ insgesamt 12 konkurrierende Methoden konstatieren (Benda 1928, S. 7). Die konzeptionelle und methodische Differenzierung der deutschen Literaturwissenschaft war nicht mehr zu übersehen. Mit der unaufhebbaren Pluralisierung von Thematisierungsweisen im Umgang mit ihrem (je unterschiedlich bestimmten) Gegenstand hatte die universitär institutionalisierte Literaturforschung einen Modernisierungsschub vollzogen, dessen Konsequenzen weit über die zeitlich befristete Geltungsdauer der einzelnen Programme hinausgehen sollten.

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Die „geistesgeschichtliche Wende“ und ihre Folgen. Differenzierungen
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