Problem- und Ideengeschichte, „Gestalt“-Biographik und Formanalyse
Auch wenn die Frontstellung gegen „Positivismus“ und „Philologismus“ der Scherer-Schule
die generationsspezifisch ähnlich gelagerten Repräsentanten einer geistesgeschichtlichen
Literaturforschung einte, bildete der von ihnen praktizierte Umgang mit Texten und
Autoren keineswegs eine homogene Bewegung. Im Gegenteil. Innerhalb des Integrationsprogramms
„Geistesgeschichte“ existierte vielmehr ein breites Spektrum unterschiedlicher literaturwissenschaftlicher
Positionen (Rosenberg 1981, S. 182; Rosenberg 1989, 32; Kolk 1993, 39). Konzeptionelle
Übereinstimmung bestand allein in der von Dilthey übernommenen Überzeugung, einen
in literarischen Werken inhärenten, transpersonal und zumeist epochenspezifisch bestimmten
„Geist“ in kulturhistorischen Zusammenhängen aufzufinden und darzustellen – ob im
Ausgang von Grundformen der Welterfahrung („Erlebnissen“ bzw. „elementaren Problemen
des Menschenlebens“), von „Ideen“ bzw. Bewusstseinseinstellungen („Typen der Weltanschauung“)
oder altersgemeinschaftlichen „Generationserfahrungen“. Den Abstand zu mikrologischer
Quellenerschließung und philologischer Textkritik markierten vor allem die neuen Arbeitsfelder:
Im Zentrum der Bemühungen standen nicht länger die Edition, die als „Prüfstein des
Philologen“ [50] gegolten hatte, und die Biographie, deren Lückenlosigkeit durch Detailforschung
und Induktion zu sichern war, sondern die „synthetische“ Rekonstruktion grundlegender
Beziehungen und Strukturen des literatur- und kulturgeschichtlichen Prozesses – ohne
dazu direkte Einflussbeziehungen zwischen Einzelzeugnissen nachweisen zu müssen. Ermittlung
und Deutung eines in der literarischen Überlieferung objektivierten „Geistes“ eröffneten
unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten, die methodisch gleichwohl dem Prinzip der
„typologischen Generalisierung“ verpflichtet blieben.
Rudolf Unger, Paul Kluckhohn (1886-1957) und Walther Rehm (1901-1963) verfolgten in
der Gestaltung von Liebe, Glauben, Tod die poetisch-philosophische Bewältigung „elementarer
Probleme des Menschenlebens“. [51] Diese „Problemgeschichte“ fand ihren Niederschlag
in Paul Kluckhohns 1925 veröffentlichter Monographie Die Auffassung der Liebe in der
Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Romantik und in Walther Rehms 1928 publizierter
Habilitationsschrift Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung vom Mittelalter bis
zur Romantik, die ihren Autoren eine Reputation sicherten, die über die Zäsuren der
Jahre 1933 und 1945 hinausging. Auch Clemens Lugowski übernahm Ungers „Gehaltsanalyse“
und versuchte sie durch die Frage nach der Beschaffenheit literarischer Figuren in
eine „Formanalyse“ zu überführen. [52] Selbst der aus dem George-Kreis stammende Max
Kommerell, der in seinen Texten ein unmittelbares, durch Interventionen anderer Interpreten
scheinbar nicht beeinträchtigtes Verhältnis zur Überlieferung inszenierte, knüpfte
in seinem Jean Paul-Buch von 1933 an das begriffliche Inventar der von Rudolf Unger
begründeten „Problemgeschichte“ an. [53]
Die von Hermann August Korff (1882-1963) repräsentierte „Ideengeschichte“ beschrieb
den historischen Wandel von Weltanschauungen in ihrer dichterischen Gestaltung. Ihr
eindrucksvolles Zeugnis bleibt das vierbändige Werk Geist der Goethezeit, das als
„Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte“
zwischen 1923 und 1953 erschien und zahlreiche Auflagen erreichte. [54]
Die von Germanisten aus dem George-Kreis wie Friedrich Gundolf , Max Kommerell (1902-1944)
oder Rudolf Fahrner (1903-1988) realisierte „Kräftegeschichte“ suchte dagegen die
geistige „Gestalt“ geschichtsbildender Individuen zu erfassen und deutete literarische
Produktion als „Kräfte und Wirkungen“, ohne aber die Methodik ihres Verfahrens nachvollziehbar
und operationalisierbar zu machen. Ihre Werke demonstrierten am deutlichsten die Abkehr
von philologischer Mikrologie: Nicht unbekannte Quellen sollten erschlossen, sondern
das zugängliche Material in neuer Perspektive dargestellt werden. „Darstellung, nicht
bloß Erkenntnis liegt uns ob; weniger die Zufuhr von neuem Stoff als die Gestaltung
und geistige Durchdringung des alten“, erklärte Friedrich Gundolf 1911 in seiner Heidelberger
Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist, die zugleich die Möglichkeit
zur Vermittlung seiner als „Erlebnisart“ deklarierten Methode dementierte. [55] Fünf
Jahre später legte er eine vieldiskutierte Goethe-Monographie vor, die in äußerlicher
Gestalt wie in öffentlicher Wahrnehmung ein Novum markierte. Ohne Hinweise auf die
bisherige Forschung, ohne Anmerkungen und wissenschaftlichen Apparat in der Schriftenreihe
Werke der Wissenschaft aus dem Kreise der Blätter für die Kunst erschienen, erreichte
sie noch zu Lebzeiten des Autors mehr als zehn Auflagen, erntete über 60 Rezensionen
und wurde in zahlreiche europäische Sprachen sowie ins japanische übersetzt. Gleichwohl
versuchte man, den Verfasser aus dem fachlichen Diskurs auszuschließen. Das 1921 publizierte
Sonderheft des Euphorion zu Gundolfs Goethe-Buch markierte sein Werk als „Wissenschaftskunst“
sowie seinen Verfasser als „Künstler der Wissenschaft“ und fixierte in Gestalt des
Lobes eine Kritik, die unbestimmt ließ, in welcher Weise das Werk die Grenze zwischen
Kunst und Wissenschaft überschritten und welches künstlerische Darstellungsverfahren
seinen wissenschaftlichen Ertrag eingeschränkt habe (Osterkamp 1993).
Als weitere Variante der geistesgeschichtlichen Literaturforschung trat die von Oskar
Walzel (1864-1944) und Fritz Strich (1882-1963) geprägte „Stiltypologie“ in Erscheinung.
Sie versuchte, die formalen Gestaltungsprinzipien des „Wortkunstwerks“ (Walzel 1926)
zu ermitteln und griff dazu auf Kategorien der Kunstgeschichte zurück. Eine besondere
Rolle spielten dabei die vom Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin auf Basis empirischer
Beobachtung entwickelten Stilbegriffe – die von der deutschen Literaturwissenschaft
jedoch nur selektiv bzw. metaphorisch rezipiert wurden. Neben terminologischen Anleihen
bediente man sich vor allem der in Wölfflins Erstlingswerk Renaissance und Barock
von 1885 entwickelten Polaritätskonstruktionen, die jedoch die formale Ebene kunstgeschichtlicher
Beschreibungen überschritten und sich auf geistige und weltanschauliche Grundtendenzen
bezogen. Die hieraus übernommenen, für eine spätere formanalytische Literaturforschung
entscheidenden Begriffsbildungen waren antithetischer Natur. „Spannung“, „Unendlichkeit“,
„Formlosigkeit“ bildeten den Gegenpol zu „Erlösung“, „Vollkommenheit“, „Vollendung“.
Auch wenn Wölfflin die Einseitigkeiten seines Jugendwerkes in den 1915 veröffentlichten
Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen revidierte, war der Grundstein für eine Formanalyse
als Daseinsdeutung gelegt. Stilbegriffe avancierten zu Abbreviaturen für Geisteshaltung
und Seelenverfassung ganzer Zeitalter und gerannen, empirische Untersuchungen vernachlässigend,
zu psychologischen Strukturtypen. Die Folgen für die Literaturforschung wurden in
Fritz Strichs erstmals 1922 veröffentlichtem Werk Deutsche Klassik und Romantik oder
Vollendung und Unendlichkeit sichtbar. Von Paul Böckmann als „erste Verwirklichung
eines ausgeprägten Stilsehens innerhalb der Literaturwissenschaft“ [56] begrüßt und
von Julius Petersen als „weitaus bedeutendster Versuch, Wölfflinsche Gesichtspunkte
auf die Literaturwissenschaft zu übertragen“ [57] gewürdigt, verharrte Strichs Werk
trotz seines Anspruches, ein textbezogener Nachvollzug der formästhetischen Methode
Wölfflins zu sein, in geistesgeschichtlichen Polaritätskonstruktionen und überbot
diese noch. Stil als „Eigentümlichkeit des Ausdrucks einer Zeit, Nation oder Persönlichkeit“
sei nicht durch Aufhellung „wesenloser und zufälliger Probleme“ zu erforschen und
darzustellen, sondern allein in der Näherung an die „einheitliche und eigentümliche
Erscheinungsform der ewig menschlichen Substanz in Zeit und Raum“, [58] postulierte
Strich und führte gegensätzliche Textverfahren und Motive auf eine „Urpolarität“ zwischen
Unendlichkeitsstreben und Vollendungshoffnung zurück. Der behauptete Antagonismus
zweier Charaktertypen wurde so zum Axiom, zu dessen Illustration der Gegensatz von
Klassik und Romantik um 1800 allein das Belegmaterial bereitstellte.
Alle Varianten des geistesgeschichtlichen Methodenspektrums verallgemeinerten die
Einzeldaten des literaturgeschichtlichen Prozesses typologisch, um in bewusster Opposition
zur „mikrologischen Nichtigkeitskrämerei“ [59] einer verselbständigten Detailforschung
umfassende Perspektiven und Sinnangebote zu erzeugen. Damit waren nicht nur erweiterte
Forschungsfelder, sondern auch Orientierungskompetenzen für eine zunehmend unübersichtliche
Welt gewonnen. In dieser Verbindung von wissenschaftlicher Innovation und weltanschaulicher
Kompetenz gründete die Überzeugungskraft des heterogenen Methodenspektrums: Die Integration
diversifizierter Wissensbestände in ganzheitlichen „Synthesen“ setzte nicht nur dem
Relativismus einer sich selbst genügenden Philologie scheinbar sichere Normen des
Wissenswerten entgegen, sondern stellte zugleich auf drängende Fragen der weltanschaulichen
Orientierungssuche ein bildungsidealistisches „Ethikangebot“ bereit (Kolk 1993). Die
meisten der so begründeten literaturgeschichtlichen Darstellungen visibilisierten
ihre Prämissen und Präsuppositionen jedoch nur unzureichend. Voraussetzung ihrer Fixierung
des literaturhistorischen Prozesses auf ein geistiges Prinzip und die dadurch ermöglichten
Einordnungen in einen übergreifenden Emanationsprozess waren radikale Ausblendungen.
Unterbelichtet blieben sowohl sozialhistorische Konditionen als auch gesellschaftsgeschichtliche
Bezugsprobleme der literarischen Produktion; der Gesamtdeutung entgegenstehende Einzelbefunde
wie empirische Beobachtungen schwanden unter unifizierenden Begrifflichkeiten, die
ihre Abkunft aus geschichts- und lebensphilosophischen Schemata nur schwer verbargen.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
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