Stammesethnographische Literaturgeschichte

Mit ganz anderer Entschiedenheit operierte eine Richtung in der Literaturforschung, die sich im Anschluss an August Sauers Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde von 1907 einer spezifischen Ordnung der kulturellen Überlieferung verschrieb. Die Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften, die Sauers Schüler Josef Nadler erstmals zwischen 1912 und 1918 vorlegte (und in weiteren Auflagen bis zur berüchtigten Literaturgeschichte des deutschen Volkes 1938-41 modifizierte) gab eine dezidiert ethnographische Deutung der literarisch-kulturellen Entwicklung des deutschen Sprachraums. [60] Mit den bereits im Titel markierten Zentralkategorien „Stamm“ und „Landschaft“ und der Reduktion historischer Prozesse auf das „Organon der völkischen Verbände und der geschlossenen Vorgänge“ [61] fixierte sie eine Form der Literaturbetrachtung, deren scheinbare Konjunktur nach 1933 der Wissenschaftsgeschichtsschreibung lange als Indiz für die restlose Anpassung an Imperative der politischen Umwelt galt (Kress 1971, S. 149; Meissl 1985). Was August Sauer in seiner Rektoratsrede Literaturgeschichte und Volkskunde von 1907 noch vorsichtig als ein Programm für eine kulturgeschichtlich erweiterte Literaturwissenschaft entworfen hatte, verwirklichte Josef Nadler auf beeindruckende und heftigen Widerspruch auslösende Weise. Einer 1914 vorgelegten theoretischen Begründung der Wissenschaftslehre der Literaturgeschichte entsprechend, die eine Aufhebung ästhetischer Auswahlprinzipien zum Programm erhob, zeichnete sich seine Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften durch eine ungeheure Gegenstandserweiterung aus. Hatte sich die Literaturhistoriographie bislang auf poetische Texte kanonisierten Charakters konzentriert, versuchte Nadler nun die gesamte in Textform vorliegende Überlieferung darzustellen: Gleichberechtigt neben anerkannten dichterischen Werken standen Zeugnisse aller Wissenschaften, die bisher wenig beachtete lateinische und katholische Literatur, Mundart- und Heimatdichtung, Zeitungen und Journale, künstlerische und politische Manifeste, Äußerungen von Organisationen und Bünden sowie das auslandsdeutsche Schrifttum von den Balten bis zu den Amerikadeutschen. Entsprechend umfassend war das personelle Ensemble des Werkes; das Personenregister im vierten Band führte über 3000 Namen auf. Strukturierendes Ordnungsprinzip dieser Datenflut wurde die auf einem substantialisierten Stammesbegriff basierende Gliederung der deutschen Real- und Kulturgeschichte in drei große historische „Vorgänge“:
(a) die Entwicklung der germanischen „Altstämme“ (Alemannen, Franken, Thüringer, Bayern), die aufgrund eines kontinuierlichen Zusammenhanges mit römisch-katholischem und romanischem Geist zu Erben der klassisch-antiken Überlieferung wurden;
(b) die Entwicklung der „Neustämme“ (Meißner, Sachsen, Schlesier, Brandenburger, Altpreußen), die nach der Ostexpansion um 1050 durch Vermischung mit den slawischen Völkern östlich der Elbe-Saale-Linie im ostdeutschen Siedlungsgebiet entstanden und die „Romantik“ hervorbrachten sowie
(c) die „Sonderentwicklung“ im bayerisch-österreichischen Süden und Südosten, die in direkter Aufnahme antiker Kultur durch Einschmelzung aller Künste das „Barock“ ausgeprägt hätte.
Auf Nadlers voluminöses Opus reagierte die disziplinäre Literaturwissenschaft mit harschen Einwänden und scharfer Kritik. Während sich Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal oder Thomas Mann beeindruckt zeigten, monierten die universitären Sachwalter der Literaturforschung vor allem Nadlers Erklärungsprinzip, das geistig-kulturelle Erzeugnisse aus ethnographischen Parametern und politisch-sozialen Verhältnissen ableitete. In der Ablehnung dieses „soziologischen Positivismus“ (Rudolf Unger) war die Zunft einig – und verweigerte sich mehr oder weniger erfolgreich auch anderen zaghaften Anläufen zu einer sozialgeschichtlich oder soziologisch orientierten Literaturforschung. Denn vom Aufschwung der Sozialwissenschaften seit Beginn des 20. Jahrhunderts spürte man in der nach methodischer Orientierung suchenden deutschen Literaturwissenschaft weit weniger als von den zeitgleichen Entwicklungen in Philosophie und Kunstwissenschaft (Voßkamp 1993).

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