Geschichte der Literaturwissenschaft
Eine professionalisierte Beschäftigung mit Literatur zur Erzeugung eines
gesicherten Wissens über ihre Entstehung, Beschaffenheit und Wirkung lässt sich bis
in die Antike zurückverfolgen. Schon in den Bibliotheken von Alexandria und Pergamon
sammelt und verzeichnet man Texte, ermittelt ihre Überlieferungsgeschichte und
untersucht sie in regelgeleiteter Weise. Verständniskrisen – etwa im Umgang mit den
Epen Homers – erzwingen theoretische Überlegungen zum Verstehen und Auslegen der
schriftsprachlichen Überlieferung. Reflexionen über Prinzipien und Normen des
Dichtens finden sich in den Dialogen des Philosophen Platon (etwa Gorgias 57, 502c;
Phaidros 244-245; Politeia 394, 598-605); die um 335 v. Chr. entstandene Abhandlung
Peri poietikes seines Schülers Aristoteles klassifiziert das Wissen über die als
„Nachahmung“ verstandene Dichtkunst. Die Kultivierung der öffentlichen Rede treibt
systematische Überlegungen zu Texteffekten und den Techniken ihrer Erzeugung voran.
Mit Poetik, Rhetorik und Hermeneutik entstehen frühzeitig spezifische
Beobachtungspositionen, die sich – befördert durch Zunahme und Differenzierung der
kulturellen Reflexion seit der Frühen Neuzeit – im 17. und 18. Jahrhundert zu
Programmen einer intensivierten Aufmerksamkeit im Umgang mit literarischen Texten
verdichten.
Diese methodisch angeleiteten Textumgangsformen gehen auf unterschiedliche
Traditionen zurück; zugleich nehmen sie verschiedene Aspekte der schriftsprachlichen
Überlieferung in den Blick. Im Anschluss an bereits im antiken Griechenland
unternommene Bemühungen um die Sammlung und Untersuchung von Texten etabliert sich
vor allem seit dem europäischen Humanismus eine universell konzipierte Philologie,
die neben dem Verständnis als enzyklopädische Gelehrsamkeit unterschiedliche und
kontrovers diskutierte Ausprägungen erfährt: Die philologia antica behandelt Quellen
und Zeugnisse der griechisch-römischen Vergangenheit; die philologia sacra
untersucht Verfassung und Bedeutungsgehalt der Heiligen Schrift; die philologia
profana erforscht Sprache und sprachlich vermittelte Kulturleistungen des Menschen
überhaupt. Philologische Einsichten und poetologische Überlegungen aufnehmend,
formieren sich seit dem 17. Jahrhundert zugleich Varianten von (Literatur-)Kritik,
die eine Bildungsinstitution der Grammatik in eine Praxis überführen, die sich immer
mehr der aktuellen Textproduktion zuwendet und in Form periodisch erscheinender
Journale institutionellen Charakter gewinnt. Bestand die kritische Behandlung von
Texten in der spätgriechischen Philologie und im Schulbetrieb des Mittelalters wie
der Frühen Neuzeit darin, ein linguistisch-systematisches Regelwissen sowie ein
historisch-materiales Sachwissen auf die Kommentierung von (kanonischen)
Sprachdenkmälern anzuwenden, erlangt sie mit dem Zuwachs der literarischen
Produktion und der Zirkulation regelmäßig publizierter Zeitschriften eine
prinzipiell neue Bedeutung: Literaturkritik umfasst nun kommentierende, urteilende,
klassifizierend-orientierende, aber auch werbende oder denunzierende Äußerungen über
Texte und entwickelt dazu spezifische Textsorten wie Charakteristik, Essay oder
Rezension (die bis ins 19. Jahrhundert mit der editionsphilologischen Recensio
verbunden wird).
Mit der Ausbildung der modernen Forschungsuniversität seit Beginn des 19.
Jahrhunderts gewinnen die im 17. und 18. Jahrhundert intensivierten
literaturkritischen und philologischen Textumgangsformen eine neue Qualität. Die
durch Wilhelm von Humboldt eingeleitete Neuorganisation der universitären
Wissenskultur führt dazu, dass sich längerfristig verfolgte Bemühungen um die
editorische Sicherung der deutschsprachigen Überlieferung und ihre kritische
Behandlung institutionell etablieren. Auch wenn die an der Klassischen Philologie
und an der Geschichtsschreibung orientierten Thematisierungsweisen noch nicht den
Begriff „Literaturwissenschaft“ tragen und in ihren Lehrstuhlbezeichnungen
(„deutsche Sprache und Literatur“ u.ä.) einen weit gefassten Gegenstandsbereich
signalisieren, können sie als Beginn einer wissenschaftlichen Bearbeitung von
Literatur im Rahmen mehr oder weniger autonomer Strukturen aufgefasst werden. Sie
unterscheiden sich von anderen Beobachtungen literarischer Texte, indem ihre
argumentativ begründeten Äußerungen (a) durch regelgeleitete Verfahren systematisch
strukturierte Lösungsangebote für rekursiv bearbeitete Problemstellungen anbieten,
(b) den Geltungsanspruch erheben, „wahr“ bzw. intersubjektiv nachvollziehbar zu sein
und (c) an eine durch Interessen und Zugangsvoraussetzungen homogenisierte gelehrte
bzw. wissenschaftliche Gemeinschaft – die später sog. scientific community –
adressiert sind.
Als Bestandteil der sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden modernen
Wissenskultur erfüllt ein solcher akademisch bzw. universitär professionalisierter
Umgang mit Literatur die (von anderen kulturellen Bereichen nicht ersetzbare)
Funktion der Produktion, Distribution und Diskussion eines Wissens, das sich durch
Investition von Zeit und Aufmerksamkeit zur wiederholten Bearbeitung spezialisierter
Problemstellungen von anderen Wissensformen unterscheidet. Durch fortwährend
hergestellten Selbstbezug – etwa in Form von programmatischen Äußerungen und Polemik
– institutionell und disziplinär stabilisiert, macht die wissenschaftliche
Beobachtung von Literatur etwas sichtbar und kommunikativ verhandelbar, was andere
Beobachtungsverfahren übersehen: Zielt etwa das Aufmerksamkeitsverhalten der zumeist
rasch reagierenden Literaturkritik i.d.R. auf qualitative Urteile und
Lektüreempfehlungen, entwickelt die Literaturforschung eine tendenziell
selektionslose Sensitivität, die noch kleinste Details eines Textes und abgelegene
Kontextelemente wahrnimmt und wertungsresistent auswertet. Eine auf lang anhaltenden
Kontakt mit dem Beobachtungsgegenstand angelegte Perspektive vermag Eigenschaften
zu
entdecken, die anderen Textumgangsformen verschlossen bleiben; sie kann historische
(Vor-)Urteile überwinden und Grenzen des Horizonts erweitern. Aufgrund dieser
Funktionsbestimmungen sind wissenschaftliche Bearbeitungsweisen von Literatur aber
stets abhängig von Ressourcenzuteilungen und öffentlicher Akzeptanz. Zugleich
erbringen sie für ihre gesellschaftliche Umwelt – wie auch für die als Umwelt
erscheinenden anderen wissenschaftlichen Disziplinen – spezifische Leistungen, die
von Bildungs- und Ausbildungsaufgaben über Stiftung von Sinn- und
Orientierungskomptenzen bis zur Stabilisierung des Literatursystems reichen. Alle
diese und weitere Faktoren sind zu berücksichtigen, wenn im Folgenden die
historische Entwicklung der Literaturwissenschaft notwendig knapp und ohne Anspruch
auf Vollständigkeit skizziert werden soll.
Die Etablierung und fortschreitende Differenzierung der Literaturwissenschaft
ist das Ergebnis eines nicht unkomplizierten und regional unterschiedlich
verlaufenden Prozesses. Um wiederholte Beobachtungen an Texten zu ermöglichen und
deren Ergebnisse zur weiteren zeitintensiven Bearbeitung durch spezialisierte
Experten zu vermitteln, sind sozial organisierte wie kognitiv konditionierte
Einheiten notwendig. Diese Einheiten zur zeitintensiven Erzeugung eines gesicherten
Wissens entstehen im neuzeitlichen Europa im System wissenschaftlicher Disziplinen,
deren Begriffe und Verfahren an Universitäten vermittelt und – insbesondere nach
Einrichtung der modernen Forschungsuniversität – explorierend weiterentwickelt
werden. Die gegen Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend durchgesetzte Organisation
von Wissenschaft in Form ausdifferenzierter universitärer Fächer bzw. Disziplinen
weist folgende Merkmale auf:
- ein Korpus lehrbaren wissenschaftlichen Wissens;
- einen hinreichend homogenen Kommunikationszusammenhang,
- rekursiv bearbeitete Fragestellungen,
- Forschungsmethoden und Problemstellungen,
- Karrierestrukturen und Sozialisationsprozesse (Stichweh 1994,
41).
Wenn die rekursive Bearbeitung von Problemstellungen, intersubjektiver
Geltungsanspruch und kommunikative Adressierung spezialisierter Wissensansprüche im
Rahmen institutioneller Strukturen als Kennzeichen der modernen Wissenschaft
anzusehen sind, ergeben sich daraus Konsequenzen für die historische Beobachtung der
Literaturwissenschaft. Zum einen sind Art und Weise der Erzeugung und Bearbeitung
literaturbezogener Problemstellungen im Zusammenhang mit wissenschaftsinternen wie
wissenschaftsexternen Bedingungen zu ermitteln und in ihren je konkreten
epistemischen wie historischen Situationen zu beschreiben. Zum anderen sind die
Funktionen, Geltungsansprüche und Leistungsbeziehungen dieses
literaturwissenschaftlichen Wissens zu rekonstruieren, die gleichfalls internen wie
externen Konditionen folgen. Nicht zuletzt sind die Medien und Darstellungsformen
zu
untersuchen, die der Distribution und Diskussion dieses spezialisierten Wissens
dienen, um Kommunikationen innerhalb des Wissenschaftssystems wie die Beziehungen
zur kulturellen Öffentlichkeit abbilden zu können. Zu berücksichtigen sind
schließlich auch Karrierestrukturen und Sozialisationsprozesse, die Wissenschaft als
Institution ermöglichen, indem sie Verhaltensformen im Umgang mit Gegenständen und
deren Bearbeitungsweisen ausbilden und dauerhaft regulieren, soziale wie
epistemische Bindungen ausprägen und Mobilität bzw. Aufstiegschancen der in ihnen
tätigen Akteure sichern.
Dementsprechend wird der nachfolgende Abschnitt verfahren. Orientiert an
wissenschaftlichen und gesellschaftsgeschichtlichen Zäsuren werden die zentralen
Etappen der professionalisierten Erforschung literarischer Texte vorgestellt und im
Kontext internationaler Entwicklungen konturiert. Konzentriert auf signifikante
Veränderungen im Universitätssystem wie im Selbstverständnis einer sich vielfältig
reflektierenden Disziplin sollen die Modalitäten der Erzeugung und Verbreitung,
Diskussion und Veränderung eines spezifisch wissenschaftlichen Wissens über
literarische Texte und literarische Kommunikation in ihren institutionellen
Rahmenbedingungen nachgezeichnet werden. Die dazu gewählten zeitlichen
Segmentierungen folgen markanten Einschnitten, die dazu beitrugen, dass sich
Selbstverständnis, Konzepte und Arbeitsformen der Literaturforschung nachhaltig
wandelten.
Der erste Abschnitt, der mit einer knappen wortgeschichtlichen Erläuterung
einsetzt und von den Anfängen eines universitär professionalisierten Umgangs mit
literarischen deutschen Texten um 1810 bis zu den Versuchen einer theoretischen
Begründung von „Literaturwissenschaft“ in den 1880er und 1890er Jahren reicht,
widmet sich den Thematisierungsweisen von Literatur innerhalb einer sich
ausdifferenzierenden Gemeinschaft von Fächern und Disziplinen an der modernen
Forschungsuniversität. Behandelt werden die Arbeitsfelder und -formen von
(deutscher) Philologie und Literaturgeschichtsschreibung, die im Anschluss an
bereits etablierte Disziplinen unterschiedliche Verfahren zur Behandlung der
literarischen Überlieferung entwickelten. Die Rekonstruktion der
Institutionalisierung und kognitiven Differenzierung dokumentiert den langwierigen
Prozess, in dessen Verlauf sich universitäre Wissenskulturen zur Bearbeitung von
deutscher Literatur etablierten; sie zeigt zugleich die Erfolgsbedingungen wie die
Alternativen zur (dominierenden) philologischen Praxis auf. Nach Darstellung der
institutionellen Konsolidierung und Differenzierung der Germanistik, die sich seit
den 1870er Jahren in „ältere“ und „neuere Abteilung“ separierte, werden die seit den
1880er Jahren verfolgten Anläufe zur Begründung einer Literaturwissenschaft
vorgestellt, die sich mit induktiven Verfahren und Kausalerklärungen von vorgängigen
philologischen bzw. literarhistoriographischen Textumgangsformen zu emanzipieren
suchte.
Der zweite Abschnitt erläutert die Ausbildung divergierender Perspektiven
einer sich als Geisteswissenschaft verstehenden Literaturforschung zwischen der
Jahrhundertwende (1900) und den Veränderungen in der Wissenschaftslandschaft im
Spannungsfeld politischer Lenkungsansprüche nach 1933. Er beginnt mit einer
Darstellung der „geistesgeschichtlichen Wende“, die im ersten Jahrzehnt des 20.
Jahrhunderts mit Kritik an der vermeintlichen „Nichtigkeitskrämerei“ einer
„positivistischen“ Literaturforschung einsetzte und in ideen- oder
problemgeschichtlich begründeten Modellierungen historischer Verlaufsformen
charakteristische Innovationsleistungen erbrachte. Das daran anschließende Kapitel
geht dabei über den Rahmen der deutschen Wissenschaftsentwicklung hinaus. Während
der fast gleichzeitige Tod der prominenten Philologen Erich Schmidt und Jakob Minor
1912 bzw. 1913 die Lehrkanzeln in Berlin und Wien verwaisen ließ und der öffentliche
Erfolg der Goethe-Bücher der „fachfremden“ Autoren Georg Simmel und Houston Stewart
Chamberlain die Beschränkungen einer universitären Literaturforschung offenbarte
(was zur regen und auch im Feuilleton geführten Diskussion über „Bankrott“, „Krise“
und „Verfall“ der deutschen Literaturwissenschaft führte), wehte seit 1915 ein neuer
Wind aus Rußland: In Moskau und Sankt Petersburg entstanden mit den Arbeiten von
Boris Ėjchenbaum, Roman Jakobson, Viktor Šklovskij, Jurij Tynjanov u.a.
Beobachtungsverfahren, die nach der spezifischen Differenzqualität literarischer
Texte bzw. ihrer „Literarizität“ (literaturnost’) fragten und zu deren Beschreibung
eine eigene Terminologie entwickelten. Die an inhärenten Konstruktionsprinzipien
interessierten Untersuchungen des russischen Formalismus bedeuteten ebenso wie die
von Vorleistungen der modernen Linguistik profitierenden Verfahren des
Strukturalismus eine Modernisierung der Literaturforschung, die im Zusammenhang mit
der transnationalen Wanderungsbewegung von Theorien (Moskau/ Sankt Peterburg – Prag
– USA – Westeuropa) nachzuzeichnen ist. Ihre wirkungsmächtige Synthese mit
historischen Textumgangsformen fanden formalistisch-strukturalistische Verfahren in
dem von René Wellek und Warren Austin 1942-49 verfassten Buch Theory of Literature,
das in den 1950er und 1960er Jahren zu einem international rezipierten Lehrwerk
avancieren sollte.
Der dritte Abschnitt thematisiert die Entwicklung der deutschen
Literaturwissenschaft zwischen den zeithistorischen Zäsuren der Jahre 1933 und 1945.
Konzentriert auf Prozesse der institutionellen Differenzierung und Modernisierung
werden Ursachen und Verlaufsformen einer fortgesetzten Pluralisierung und
Diversifizierung im Umgang mit Texten und Kontexten ermittelt, die trotz verbal
postulierter Selbstgleichschaltung im Jahre 1933 nicht aufgegeben wurden. Unter
genauer Beobachtung der Wirkungen und Gegenwirkungen politischer Lenkungsansprüche
sind sowohl die gesellschaftlich induzierten Veränderungen als auch die
Kontinuitäten der Wissenschaftsentwicklung herauszuarbeiten.
Im vierten Abschnitt stehen die Tendenzen der Internationalisierung,
Modernisierung und Restauration der Literaturforschung nach der politischen Zäsur
des Jahres 1945 im Zentrum. Der aus den USA nach Westeuropa und in die
Bundesrepublik importierte New Criticism ist in diesem Zusammenhang ebenso zu
behandeln wie die von Leo Spitzer inspirierten Formen einer „explication de texte“,
denen im deutschen Sprachraum die seit Ende der 1930er Jahre entwickelten Varianten
der sog. werkimmanenten Interpretation korrespondierten. Neben den Programmen einer
„Kunst der Interpretation“ (Emil Staiger), einer „morphologischen
Literaturwissenschaft“ (Günther Müller) und der systematisierten Beschäftigung mit
dem „sprachlichen Kunstwerk“ (Wolfgang Kayser) werden die von Vertretern der
romanistischen Literaturwissenschaft stammenden und bis heute aufgelegten
Darstellungen Mimesis (Erich Auerbach, 1946) und Europäische Literatur und
lateinisches Mittelalter (Ernst Robert Curtius, 1948) in ihren
wissenschaftshistorischen Zusammenhängen erläutert. Im Weiteren widmet sich dieser
Abschnitt den institutionellen und konzeptionellen Umbrüchen in der DDR. Während der
politische Einschnitt des Jahres 1945 in den westlichen Besatzungszonen und in der
Bundesrepublik keine wesentlichen Veränderungen der Wissenschaftslandschaft nach
sich zog, führten die Umstellungen des Bildungssystems in der SBZ bzw. der DDR zu
nachhaltigen Veränderungen in Hochschul- und Wissenschaftspolitik, von denen auch
die Literaturforschung betroffen war. Die Orientierung an den in der Sowjetunion
bereits in den 1920er und 1930er Jahren entwickelten Prämissen einer
materialistischen bzw. marxistischen Wissenschaftskonzeption ließ Textumgangsformen
entstehen, die insbesondere die gesellschaftsgeschichtlichen Konditionen der
literarischen Produktion thematisierten und nach dem zu Beginn der 1960er Jahre
abgeschlossenen Generationswechsel hegemoniale Bedeutung gewannen. Den
Berührungspunkten dieser in der DDR wie in anderen sozialistischen Ländern
entfalteten Beobachtungsperspektiven mit analogen Einsätzen in Westeuropa ist hier
ebenso nachzugehen wie den internen Differenzierungen des materialistischen
Paradigmas, das in Einsätzen zu einer „kybernetischen“ Literaturforschung oder einer
„Kultursemiotik“ (durch Jurij Lotman und die Moskau-Tartu-Schule) an
nationenübergreifenden Tendenzen der Wissenschaftsentwicklung
partizipierte.
Den Abschluss dieser historischen Skizze markieren Daten, die einen bis in die
Gegenwart anhaltenden Wandel in Selbstverständnis und Verfahren der
textinterpretierenden Disziplin anzeigen. Während 1964/65 eine Diskussion über die
Rolle der Germanistik in der NS-Zeit begann, die auf dem Münchener Germanistentag
1966 öffentlich gemacht wurde, entfesselte Emil Staigers Rede Literatur und
Öffentlichkeit noch im gleichen Jahr eine Kontroverse, die in ihrer Wirkung weit
über den Kreis fachlicher Spezialisten hinausging und als „Zürcher Literaturstreit“
bekannt wurde. Denn Staigers Polemik gegen die modernen Literatur offenbarte weniger
deren vermeintlichen Nihilismus als vielmehr die Dogmatik der eigenen Perspektive,
die auf einer Ontologie des „Urmaßes“ und einem von idealistischer Ästhetik
getragenen Geschmacksideal beruhte. Die Berufung auf angeblich zeitlose Werte wie
die polemische Abwehr der „sogenannten wissenschaftlichen Theorien“ lösten eine
Methodendiskussion aus, die sich kritisch mit den ideologischen Voraussetzungen
einer solchen Dichtungstheorie auseinander setzte – und im Verbund mit der 1967
einsetzenden studentischen Protestbewegung zu nachhaltigen Veränderungen der in
akademischem Byzantinismus und gesellschaftlicher Unverbindlichkeit eingerichteten
Literaturwissenschaft führte. Im Herbst 1966 fand an der John Hopkins-Universität
in
Baltimore der Kongress „The Languages of Criticism and the Sciences of Man“ statt,
der unter Beteiligung von damals noch jungen Forschern wie Jacques Derrida eine
kritische Reflexion strukturalistischer Verfahren initiieren sollte und eine
folgenreiche Metamorphose des Stukturalismus einleitete. – Anfang 1967 erschien
schließlich ein Themenheft der sowjetischen Zeitschrift Voprosy literatury, das die
Forschungen des seit 1963 an der Universität Tartu (Estland) als Professor für
Literaturgeschichte lehrenden Juri Lotman und seines Kreises öffentlich zur
Diskussion stellte. Damit fanden die Bemühungen um den Einsatz
kybernetisch-statistischer wie linguistisch-semiotischer Verfahren zur Beschreibung
und Erklärung der literarischen Kommunikation – die schon auf Symposien zur
Erforschung der poetischen Sprache (1961 in Gorkij) und zur strukturellen
Erforschung von Zeichensystemen (1962 in Moskau) erprobt worden waren – eine
Resonanz, die nicht nur in die DDR und die anderen sozialistischen Länder, sondern
auch in die Bundesrepublik ausstrahlen sollte: Lotmans 1964 gehaltene Vorlesungen
zu
einer strukturalen Poetik wurden hier ebenso übersetzt und rezipiert wie seine
Beiträge zu einer Semiotik der Kultur.
Mit diesen knappen Markierungen der zu behandelnden zeitlichen Abschnitte sind
zugleich leitende Perspektiven umrissen. Im Rahmen dieses Beitrags können
selbstverständlich nicht alle Prozesse der Institutionalisierung und Modernisierung
wissenschaftlicher Textumgangsformen seit dem 19. Jahrhundert detailliert erläutert
werden. Zu dokumentieren sind vielmehr grundlegende Muster und Regelarien jener
methodisch geleiteten Beobachtungsverfahren, die unterschiedliche
Thematisierungsweisen des faszinierenden Gegenstandes Literatur ermöglichten und in
je historisch konkreten Konstellationen realisierten. Zugleich bleibt zu hoffen,
dass diese knappe Skizze mehr als nur eine historische Rekonstruktion der
disziplinären Entwicklungen bietet. Möglicherweise stellt die retrospektive
Vergewisserung über den Wandel von Wissensansprüchen ein heuristisches Potential für
gegenwärtige Konstellationen bereit; eventuell sind in geschichtlich entwickelten
Fragestellungen und Lösungsstrategien bestimmte Problemlagen zu entdecken, die für
heutige Debatten und Konstellationen wieder interessant werden könnten. Zudem hat
sich jeder Teilnehmer am Gespräch der Wissenschaft und jede wissenschaftliche
Generation den gewonnenen Reflexionsstand auf ihre Weise anzueignen – und was trägt
dazu besser bei als eine fundierte Einführung in die historischen Dimensionen ihrer
grundlegenden Konzepte und Verfahren?
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007