Eine Wissenschaft formiert sich. Varianten 1810–1870
Den Terminus „Literaturwissenschaft“ gibt es – abgesehen von einer isolierten
   Verwendung im Jahre 1764 – seit 1828. In diesem Jahr beginnt mit dem Gebrauch der
   Kategorie „Literaturwissenschaft“ im Verzeichnis der Bücher [...] zu finden in der
   J.C. Hinrichsschen Buchhandlung in Leipzig die Wortgeschichte. Nach seltenem Einsatz
   in den Jahrzehnten nach 1830 wird der Begriff seit den 1880er Jahren zum
   programmatischen Label für eine Verwissenschaftlichung der universitären Fächer, die
   sich auf je eigene Weise mit literarischen Texten beschäftigen: 1884 erscheinen
   Akademische Blätter mit dem Untertitel Beiträge zur Litteratur-Wissenschaft, in
   denen u.a. die Goethe-Forscher Heinrich Düntzer und Jakob Minor sowie der Klopstock-
   und Wieland-Editor Franz Muncker publizieren. Der später als Ethnograph wirkende
   Ernst Grosse projektiert in seiner Hallenser Dissertation Die
   Literatur-Wissenschaft. Ihr Ziel und ihr Weg 1887 eine theoretisch begründete
   Literaturgeschichte; Reinhold Merbot dokumentiert in der 1889 in Frankfurt
   veröffentlichten Schrift Forschungsweisen der Literatur-Wissenschaft insbesondere
   dargelegt an den Grundlagen der Liedertheorie und sucht hier die deutsche Philologie
   zu modernisieren. Universitäre Eigenständigkeit gewinnt der Begriff noch später. Im
   Jahr 1913 wird das „Königlich Preußische Seminar für Literatur- und
   Theaterwissenschaft“ an der Kieler Universität als selbständiges Institut ins Leben
   gerufen; sein Begründer ist der hier seit 1904 als außerordentlicher Professor für
   Neuere deutsche Sprache und Literatur wirkende Eugen Wolff (1863-1929), der sich in
   Berlin an der literarischen Bewegung des Naturalismus beteiligt und 1890 die
   programmatischen Schriften Das Wesen wissenschaftlicher Literaturbetrachtung und
   Prolegomena der litterar-evolutionistischen Poetik veröffentlicht hatte.
Zu diesem Zeitpunkt hatten die mit der Erforschung von Literatur befassten
   Wissenschaftszweige eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Die schon im 18.
   Jahrhundert verstärkt einsetzenden und in der Romantik intensiv verfolgten
   Interessen für poetologische Reflexion und literarische Überlieferung (insbesondere
   des Mittelalters und der frühen Neuzeit) führten im Verbund mit Modernisierungen im
   Bildungssystem und der durch Wilhelm von Humboldt initiierten Neuorganisation der
   preußischen Universitäten nach 1810 zur Einrichtung der ersten Professuren für
   deutsche Sprache und Literatur. Ihre Inhaber beschäftigten sich vorrangig mit der
   Sammlung, Edition und Kommentierung von Texten. Bereits 1805 hatte der
   Bibliotheksangestellte Georg Friedrich Benecke in Göttingen ein Extraordinariat ohne
   Fachbezeichnung erhalten und widmete sich auf dieser Stelle der
   editionsphilologischen und lexikographischen Erschließung „altdeutscher“ Texte; 1809
   wurde Friedrich Ferdinand Delbrück außerordentlicher Professor für Theorie, Kritik
   und Literatur der Schönen Künste an der Universität Königsberg. 1810 erfolgte die
   Berufung des Juristen und Privatgelehrten Friedrich Heinrich von der Hagen auf die
   Stelle eines außerordentlichen Professors für Deutsche Sprache und Literatur an der
   neu gegründeten Berliner Universität. Seine Stelle gilt als erste germanistische
   Fachprofessur und ihr Inhaber – der 1807 eine „erneuende“ Ausgabe des
   Nibelungenliedes vorgelegt hatte und das „Studium der vaterländischen
   Alterthumswissenschaften in die Reihe der übrigen Wissenschaften“ heben wollte [1]
   –
   als einer der „Gründerväter“ einer institutionalisierten Literaturforschung. Dabei
   ist die Prioritätsfrage (ebenso wie die Rede von einer personal begründeten
   Wissenschaft) problematisch und auch an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Schon
   Wilhelm Grimm kritisierte die auf „Erneuung“ der mittelhochdeutschen Überlieferung
   zielenden Anstrengungen des Friedrich Heinrich von der Hagen als „Modernisierung,
   die schlechter ist als das Original, und doch nicht modern“; Jacob Grimm betonte in
   seiner Rede auf Lachmann 1851, dass Georg Friedrich Benecke „überhaupt der erste“
   gewesen sei, „der auf unsern Universitäten eine grammatische kenntnis altdeutscher
   sprache weckte“. [2] Die hier anklingenden und insbesondere von den Brüdern Jacob
   und Wilhelm Grimm, ihrem Mentor Benecke und dem später noch wichtig werdenden
   Philologen Karl Lachmann geleisteten Widerstände gegen den ersten Berliner
   Lehrstuhlinhaber Friedrich Heinrich von der Hagen – der 1817 eine ordentliche
   Professur für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Breslau und 1824 ein
   Ordinariat in Berlin erhielt – verweisen auf divergierende Varianten im Umgang mit
   Literatur schon in der Frühzeit der sich disziplinierenden Wissenskultur: Sollten
   literarische Texte als kulturelle Zeugnisse für die Gegenwart verstanden (und
   entsprechend aufbereitet) oder als Sprachdenkmale (mit philologischer Methode und
   „grammatischer kenntnis“) behandelt werden? An welchen textinterpretierenden
   Disziplinen konnte sich die gerade etablierende Beschäftigung mit deutscher
   Literatur orientieren? Und wer sollte der Adressat bzw. Verwender der so
   produzierten Wissensansprüche sein? – Alternativen im Umgang mit Texten waren also
   möglich und prägten die Entwicklung einer universitären Literaturforschung, die sich
   in einem komplizierten und an den einzelnen Hochschulen zeitlich stark versetzten
   Prozess zwischen 1810 und 1870 formierte (Stackmann 1991, Weimar 1989; Fohrmann/
   Voßkamp 1991; Fohrmann/ Voßkamp 1994). Folgt man der (für die deutsche
   Universitätstradition wohl zutreffenden) Auffassung, dass die Institutionalisierung
   eines Faches mit der Errichtung eines Ordinariats verbunden ist, macht ein Blick auf
   die nachfolgende tabellarische Übersicht deutlich, wie langwierig und uneinheitlich
   sich die Anfänge einer professionalisierten Literaturforschung
   gestalteten:
   
      | Einrichtung einer ord. Professur | Universität | Fachbezeichnung/ Nomination | Vertreter | 
   
      | 1811 | Tübingen | Lehrstuhl für die deutsche Sprache und Literatur und für die
         Übungen im mündlichen und schriftlichen Vortrag | Salomo Heinrich Michaelis | 
   
      | 1813 | Göttingen | ohne Fachbezeichnung | Georg Friedrich Benecke | 
   
      | 1817 | Breslau | Deutsche Sprache und Literatur | Friedrich Heinrich von der Hagen | 
   
      | (1818 | Berlin | ohne Fachbezeichnung | August Wilhelm Schlegel) | 
   
      | 1824 | Berlin | Deutsche Sprache und Literatur | Friedrich Heinrich von der Hagen | 
   
      | 1818 | Bonn | Fach der schönen Redekünste und der schönen Litteratur, sowohl im
         Allgemeinen als auch in besonderer Beziehung auf deutsche
         Sprache | Johann Friedrich Ferdinand Delbrück | 
   
      | 1827 | Königsberg | Fach der deutschen Sprache und Litteratur | Eberhard Gottlieb Graff | 
   
      | 1835 | München | Ältere deutsche Sprache und Litteratur | Hans Ferdinand Maßmann | 
   
      | 1837 | Rostock | Ästhetik und neuere Literatur | Christian Wilbrandt | 
   
      | 1843 | Leipzig | Deutsche Sprache und Literatur | Moriz Haupt | 
   
      | 1847 | Greifswald | Fach der orientalischen Sprachen und der vergleichenden
         Sprachwissenschaft | Albert Hoefer | 
   
      | 1848 | Marburg | Orientalische und altdeutsche Literatur | Franz Dietrich | 
   
      | 1852 | Heidelberg | Altdeutsche Sprache und Literatur | Adolf Holtzmann | 
   
      | 1852 | Erlangen | Deutsche Sprache und Literatur | Rudolf von Raumer | 
   
      | 1854 | Kiel | Deutsche Sprache, Literatur und Altertumskunde | Karl Müllenhoff | 
   
      | 1856 | Würzburg | Deutsche Philologie | Hermann Müller | 
   
      | 1863 | Halle | Deutsche Sprache und Litteratur | Julius Zacher | 
   
      | 1866 | Freiburg | Deutsche Sprache und Literatur | Matthias Lexer | 
   
      | 1867 | Gießen | Deutsche Sprachwissenschaft und Literatur | Friedrich Ludwig Karl Weigand | 
   
      | 1872 | Straßburg | Ohne Fachbezeichnung | Wilhelm Scherer | 
   
      | 1876 | Jena | Deutsche Philologie | Eduard Sievers | 
   
      | 1877 | Berlin | Neuere deutsche Literaturgeschichte | Wilhelm Scherer | 
Schon die wechselnden Nominationen signalisieren Veränderungen, die sich in
   der universitären Erforschung und Vermittlung literarischer Texte seit der
   Errichtung eines Lehrstuhls „für die deutsche Sprache und Literatur und für die
   Übungen im mündlichen und schriftlichen Vortrag“ 1811 in Tübingen vollzogen. In den
   folgenden Abschnitten sollen diese Wandlungen im Umgang mit Literatur innerhalb
   einer sich ausdifferenzierenden Wissenschaftslandschaft nachgezeichnet werden. Die
   Rekonstruktion dokumentiert den langfristigen Prozess, in dessen Verlauf sich eine
   universitäre Wissenskultur zur Bearbeitung von deutscher Literatur etablierte und
   –
   wie die Einrichtung der ersten Professur für Neuere deutsche Literaturgeschichte
   1877 in Berlin sichtbar macht – intern differenzierte. Nach der Darstellung von
   deutscher Philologie und Literaturgeschichte, die im Anschluss an bereits
   erfolgreiche Disziplinen unterschiedliche Verfahren zur Behandlung der literarischen
   Überlieferung entwickelten, folgt eine Erläuterung der seit den 1870er Jahren
   verfolgten Anläufe zur Begründung einer „Literatur-Wissenschaft“, die sich mit
   induktiven Verfahren und Kausalerklärungen von vorgängigen philologischen bzw.
   literarhistoriographischen Textumgangsformen zu emanzipieren suchte.
© Ralf Klausnitzer  / Letzte inhaltliche Änderung am: 15.11.2007
   
   
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   Eine Wissenschaft formiert sich. Varianten 1810–1870
   
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