Im Spannungsfeld politischer Lenkungsansprüche. 1933–1945
Auf die Machtübertragung an die Nationalsozialisten reagierten namhafte
   Repräsentanten der universitären Literaturwissenschaft mit pathetisch artikulierter
   Zustimmung: Eine „neue Epoche der deutschen Geschichte“ sowie einen „Aufbruch des
   Geistes aus langer Fremdherrschaft“ konstatierte der Leipziger Ordinarius Hermann
   August Korff; vom „Wunder der deutschen Wende“ sprach Gerhard Fricke, der im Mai
   1933 auch die Rede zur Bücherverbrennung in Göttingen hielt. [70] Die Zeitschrift
   für Deutsche Bildung veröffentlichte ein Sonderheft mit Stellungnahmen der
   Herausgeber, die unter Titeln Die Wissenschaft vom deutschen Menschen in dieser Zeit
   oder Deutschunterricht und Nationalsozialismus das politische Ereignis begrüßten und
   einen Bedeutungszuwachs der eigenen Tätigkeit gekommen sahen. Auch die Zeitschrift
   für Deutschkunde publizierte Ergebenheitsadressen. Selbst für die Deutsche
   Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte war ein
   Sonderheft geplant, für das Mitherausgeber Erich Rothacker einen „ideologischen
   Aufsatz“ über den Nationalsozialismus aus der Feder des Rosenberg-Mitarbeiters
   Alfred Baeumler vorsah (Dainat/ Kolk 1995, 130).
Obwohl deutsche Schulmänner und Philologen im Frühjahr 1933 lauthals ihre
   Zustimmung zum neuen Staat deklarierten und mit einem „neuen Zeitalter“ [71] die
   Einlösung ihrer Hoffnungen auf eine Aufwertung der Wissenschaft von deutscher
   Sprache und Literatur gekommen sahen, zählten sie nicht zu den Gewinnern der
   NS-Machtübernahme. Sorgten schon die Exzesse der nationalsozialistischen
   Studentenschaft und die dirigistischen Interventionen des politischen Systems in das
   Selbstbestimmungsrecht der Hochschulen im Jahr 1933 unter Fachvertretern für Unruhe,
   so markierte der Umbau des Wissenschaftssystems mit seinen verheerenden Folgen für
   die Germanistik deutlich die Missachtung, die das in seiner Wissenschaftspolitik
   uneinheitlich agierende Herrschaftssystem der professionalisierten Beschäftigung mit
   Literatur und Sprache entgegenbrachte. Die Zahl der Germanistik-Studenten sank von
   1931 bis 1938 von 5361 auf 1049 Studierende; in der selben Zeit sank die Zahl der
   Germanistik-Dozenten von 144 auf 114, was dem Stand von 1920 entsprach (Tietze 1987,
   124f.; von Ferber 1956, 195f.) Eine Ursache für dieses offenkundige Desinteresse ist
   in den kulturpolitischen Präferenzen der braunen Machthaber zu finden: Die von
   Walter Benjamin bereits 1935 konstatierte und in neueren Forschungen detailliert
   rekonstruierte „Ästhetisierung des politischen Lebens“ [72] durch die
   Nationalsozialisten favorisierte insbesondere jene Medien, die eine kollektive und
   kontrollierbare Manipulation breiter Bevölkerungskreise ermöglichten. Gegenüber der
   massenwirksamen Performanz von Aufmärschen, Kundgebungen, Reichsparteitagen und der
   Suggestionskraft von Film und Theater kam der individualisierenden Lektüre
   literarischer Texte eine eher geringere Bedeutung zu. Hinzu trat ein nur schlecht
   bemänteltes Misstrauen der NS-Führungsschicht gegenüber der universitären bzw.
   akademischen Wissenschaft und die – namentlich vom „Führer“ der Bewegung mehrfach
   erklärte – Priorität von Körperertüchtigung und weltanschaulicher Erziehung, was zu
   einem Bedeutungsverlust humanistischer wie deutschkundlicher Bildungsinhalte an den
   Schulen und Gymnasien führte (Hopster/ Nassen 1983; Lauf-Immesberger
   1987).
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   Im Spannungsfeld politischer Lenkungsansprüche. 1933–1945
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |