Institutionelle Rahmenbedingungen
In dieser Perspektive können die Ergebenheitsadressen von Hochschulgermanisten aus
   dem Jahr 1933 und die in den Folgejahren publizierten Bekenntnisse als Dokumente diffuser
   (und rasch enttäuschter) Illusionen, aber auch als rhetorische Maßnahmen zur Schadensbegrenzung
   gelesen werden – zumal in ihnen von geistiger Erneuerung oft, von institutioneller
   Umgestaltung des Lehr- und Forschungsbetriebs nur selten die Rede war. [73] Mittels
   verbaler „Selbstgleichschaltung“ hofften die politisch weitgehend konservativen Literaturwissenschaftler,
   von denen sich nur die wenigsten vor 1933 für die NSDAP engagiert hatten, staatliche
   Eingriffe moderieren zu können. Entgegen kam ihnen der Umstand, dass sich die angestrebte
   Reform der Hochschulen vorrangig auf personalpolitischer Ebene vollzog: Allein die
   rassistisch und politisch motivierten „Säuberungen“ nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung
   des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, die Beschneidung der universitären Selbstverwaltung
   im Herbst 1933 und die Einführung der Reichshabilitationsordnung vom 13. Dezember
   1934 stellten direkt „erfolgreiche“ Eingriffe in das institutionelle Gefüge der Hochschulautonomie
   dar. Für eine nahezu bruchlose Überführung des Kaderbestands in das „neue Reich“ hatten
   Disziplin und Politik bereits vorher gesorgt – unter den Emigranten des Jahres 1933
   waren nur wenige Literaturwissenschaftler vertreten, die eine Professur oder Dozentur
   inne hatten. Zu den aus Deutschland exilierenden Berufsgermanisten gehörten u.a. Richard
   Alewyn (außerordentlicher Professor in Heidelberg), Walter A. Berendsohn (außerordentlicher
   Professor in Hamburg), Melitta Gerhard (PD Kiel), Wolfgang Liepe (außerordentlicher
   Professor in Kiel), Hans Sperber (außerordentlicher Professor in Köln), Marianne Thalmann
   (PD Wien). Von den „Säuberungen“ des Jahres 1933 war nur ein Inhaber eines ordentlichen
   Lehrstuhls betroffen: Werner Richter, der 1932 als Ordinarius für Deutsche Philologie
   an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen worden war und im November
   1933 nach § 3 des Berufsbeamtengesetzes in den Ruhestand versetzt wurde. Wolfgang
   Liepe in Kiel war – wie Friedrich Gundolf in Heidelberg – nur Inhaber eines planmäßigen
   Extraordinariats mit den Rechten eines persönlichen Ordinarius (Dainat 1997, S. 103).
   Fatal wirkte sich die Ausgrenzung jüdischer Germanisten auf einzelne Fachgebiete und
   Arbeitsfelder aus: Hoffnungsvolle Romantikforscher wie Richard Samuel oder Georg Stefansky
   verließen das Land; aufopferungsvolle Editoren wie der Jean-Paul-Herausgeber Eduard
   Berend oder Josef Körner konnten nur noch in begrenztem Rahmen arbeiten. Der akribische
   Bibliograph Alfred Rosenbaum wurde ebenso wie die Sprachwissenschaftlerin Agathe Lasch
   deportiert und ermordet. Georg Lukács und Walter Benjamin, die außerhalb der universitär
   institutionalisierten Germanistik einen wichtigen Beitrag zur Literaturforschung geleistet
   hatten, verließen 1933 Deutschland. Der aus der Redaktion der Vossischen Zeitung gedrängte
   Arthur Eloesser starb 1938 als verfemter Jude in Berlin. Georg Ellinger – dessen dreibändige
   Geschichte der Neulateinischen Literatur im 16. Jahrhundert ohne Fortsetzung blieb
   – nahm sich hier 1939 das Leben.
Die juristisch sanktionierte Ausgrenzung jüdischer und politisch nicht konformer Wissenschaftler
   bildete einen zentralen und folgenreichen Eingriff in die Autonomie universitärer
   Forschung und Lehre; die Berufungspolitik, eine weitere staatliche Eingriffsmöglichkeit
   in die Wissenschaftsentwicklung, erwies sich als weniger steuerbar. Zwar wurden nach
   1933 neben der bislang üblichen Begutachtung fachlicher und charakterlicher Qualifikation
   „Arier-Nachweis“ und „politische Einschätzung“ verlangt; neuere Untersuchungen zeigen
   jedoch, wie schwierig die Durchsetzung ministeriell oktroyierter Personalentscheidungen
   war und dass spätestens Ende der 1930er Jahre die Initiative auf die Seite der scientific
   community überging (Dainat 2003; zu „Niveauwahrung und Pluralitätsduldung“ als Prinzipien
   universitärer Personalpolitik auch Kolk 1998, 508-539; disziplinenübergreifend Kelly
   1980). Weder die hochfliegenden Pläne zu einer umfassenden Universitätsreform im Sinne
   Ernst Kriecks noch die von Alfred Rosenberg favorisierte Idee einer „Hohen Schule“
   konnten verwirklicht werden. Bereits drei Jahre nach der Machtergreifung wurde deutlich,
   dass sich die Konzepte für eine radikale Politisierung der Wissenschaftslandschaft
   nicht durchsetzen ließen. Die „politische Hochschule“ könne „erst in etwa einem Jahrzehnt
   verwirklicht werden durch Nachrücken eines weltanschaulich einwandfreien Nachwuchses“,
   in der Zwischenzeit aber man müsse „auf die peinlichen Bemühungen der derzeitigen
   Lehrstuhlinhaber, ‚Nationalsozialismus zu spielen’, verzichten“, hieß es 1936 in einer
   Bilanz von Walter Groß, dem Leiter des Rassepolitischen Amtes der NSDAP und späteren
   Wissenschaftsverantwortlichen im Amt Rosenberg. [74]
Den weitgehenden Erhalt vorhandener Strukturen und die Wahrung relativer Autonomie
   begünstigten mehrere Umstände. Auf der Ebene des Sozialsystems Wissenschaft und seiner
   Institutionen erleichterten das Fehlen eines einheitlichen Konzepts für eine gezielte
   Wissenschaftspolitik sowie die ungeklärten Kompetenzen unterschiedlicher wissenschaftsorganisatorischer
   Führungsgremien die Beibehaltung professioneller Standards. (In der NSDAP operierten
   die Parteiamtliche Prüfungskommission unter Reichsleiter Philipp Bouhler, die Dienststelle
   zur Überwachung der gesamten politischen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP
   unter Alfred Rosenberg, die für Gutachten verantwortliche Parteikanzlei und der NSD-Dozentenbund.
   Die SS besaß mit dem – von zahlreichen Germanisten durchsetzten – Sicherheitsdienst
   und ihrer Lehr- und Forschungseinrichtung Deutsches Ahnenerbe eigene Instrumente,
   die eine Infiltration des Wissenschaftssystems anstrebten. Das Reichsministerium für
   Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung unter Bernhard Rust agierte mit nie zuvor
   erreichter Kompetenzfülle, doch schwacher Machtstellung, da es nie gelang, seine staatlichen
   Befugnisse mit Parteidienststellen zu synchronisieren. Die traditionellen Wissenschaftsinstitutionen
   wie Universitäten und Akademien hielten nach einer größtenteils von Studenten gestalteten
   „revolutionären“ Phase weitgehend an Formen von Selbstverwaltung fest; weiter bestanden
   auch die von NSDAP-Mitgliedern und NS-Aktivisten infiltrierten disziplinären Kommunikationsgemeinschaften,
   deren Reputationshierarchien durch jene relativiert, doch nicht dominiert werden konnten.)
   Auf kognitiver Ebene profitierte das Wissenschaftssystems von der Inkohärenz des nationalsozialistischen
   Ideenhaushalts – selbst auf dem Gebiet der ideologisch fundamentalen Rassentheorie
   existierte keine offizielle „Lehre“, sondern konkurrierende „Rassenkunden“. Zugleich
   demonstrierte die universitäre Literaturwissenschaft in Gestalt prominenter Fachvertreter
   politische Konformität: Julius Petersen und Hermann Pongs, die 1934 die Redaktion
   der Zeitschrift Euphorion aus den Händen des ins Exil gezwungen Georg Stefansky übernahmen,
   versahen das Periodikum mit dem sprechenden Titel Dichtung und Volkstum und erfüllten
   in vorauseilendem Gehorsam Ansprüche, die als solche von politischen Funktionsträgern
   noch gar nicht formuliert worden waren (Adam 1994, 38f.; Adam 1996).
Aus diesen Gründen verlief die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft (wie
   auch der anderen Philologien) in den Jahren der NS-Diktatur weitgehend in den seit
   Ende des 19. Jahrhunderts ausgeprägten Bahnen von Forschung und Lehre – wenn auch
   Verzerrungen der wissenschaftlichen Kommunikation und ein allgemeiner Niveauverfall
   unverkennbar waren (so schon Viëtor 1945; Voßkamp 1991, 701f.; Albert 1995, S. 152f.).
   Garant der bei aller deklarierten politischen Funktionsübernahme kontinuierlichen
   Wissenschaftsentwicklung war ein „eingespieltes Beharrungsvermögen“ (Tietze 1989,
   229), das die Bindung an Traditionen und Standards auf institutioneller wie kognitiver
   Ebene gewährleistete. Bezeichnend für die Verzerrungen der wissenschaftlichen Kommunikation
   in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur waren die politischen Implikationen
   fachlicher Debatten und das weitgehende Fehlen regulärer Diskussionsforen. Wissenschaftliche
   Konflikte wurden von den beteiligten Akteuren zumeist als riskante Kollisionen mit
   möglichen Reaktionen seitens des polykratischen Herrschaftsapparates begriffen (Gaul-Ferenschild,
   240-246; Dainat 1994b; Albert 1994, 48-67). Symptomatisch für das diskussionserstickende
   Klima, in dem die Politisierung aller Debatten zu unkalkulierbaren Risiken führen
   konnte, war der Umstand, dass Treffen von Hochschulgermanisten nach 1933 nicht mehr
   stattfanden – obwohl, wie Friedrich Naumann im November 1938 in einem vertraulichen
   Schreiben an das REM mitteilte, „der Wunsch nach diesen Zusammenkünften besteht“.
   [75] Der in den NS-Lehrerbund eingegliederte Germanistenverband vermochte gleichfalls
   nicht, den wissenschaftlichen Austausch zu organisieren. Sowohl der hochfliegende
   Plan für einen „Weltkongreß der Germanisten“ 1939 (der trotz intensiver Planungen
   durch den Krieg endgültig vereitelt wurde) wie die im Juli 1940 in Weimar stattfindende
   „Kriegseinsatztagung deutscher Hochschulgermanisten“ wurden durch das Reichserziehungsministerium
   projektiert: Unter Leitung von Gerhard Fricke, Franz Koch und Clemens Lugowski fanden
   sich vom 5. bis 7. Juli 1940 im Saal des Weimarer Goethemuseums 43 deutsche Sprach-
   und Literaturwissenschaftler zur ersten Fachtagung seit 1933 zusammen. Bereits im
   Dezember 1941 lag das fünfbändige Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung
   vor und wurde auf einer Buch- und Dokumentenschau unter dem Titel „Deutsche Wissenschaft
   im Kampf um Reich und Lebensraum“ an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg
   präsentiert (umfassend Hausmann 1998).
Die in den Kriegsjahren spürbaren Änderungen im Verhältnis des politischen Systems
   zu den Wissenschaften betrafen auch die universitäre Literaturforschung. Die prekäre
   Nachwuchssituation des Faches, bereits Ende der 1930er Jahre registriert, verhalf
   Wissenschaftlern zu Stellen und Ordinariaten, die die disziplinären Geschicke bis
   in die 1960er Jahre bestimmen sollten. Neben der Instrumentalisierung des literarischen
   Erbes zu kultureller Legitimationsbeschaffung in „Kriegseinsatz“-Beiträgen oder germanistisch
   unterstützten Gedenkveranstaltungen (Eichendorff-Woche 1942, Hölderlinfeier 1943)
   öffneten sich Freiräume für wissenschaftliche Projekte, an die in der Nachkriegszeit
   angeschlossen werden konnte. Die in einem weiteren germanistischen Gemeinschaftsunternehmen
   besiegelte Wendung zur Praxis der „Auslegung“ [76] und die noch während des Krieges
   begonnenen Editionsprojekte sicherten die Kontinuität literaturwissenschaftlichen
   Arbeitens über das Kriegsende 1945 hinaus: Sowohl die 1939 von Julius Petersen projektierte
   Schiller-Nationalausgabe – deren erster Band nach Querelen um die Einleitung Friedrich
   Beißners 1943 erscheinen konnte – wie die 1943 begonnene Große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe,
   die mit der Wiedergabe von Lesarten bzw. Varianten nach Stufenmodell ein neues editorisches
   Verfahren praktizierte, wurden nach Kriegsende fortgeführt (Oellers 1996).
Die von Zeitzeugen retrospektiv beschriebenen „Freiräume im nationalsozialistischen
   Staat“ (Walter Müller-Seidel 1997, 155) sind jedoch nicht als Resultat bewusster Widerstandsleistungen
   zu interpretieren: An aktiver Opposition gegen das Regime und seine verbrecherische
   Politik beteiligten sich deutsche Literaturwissenschaftler in der Regel nicht; Martin
   Greiner (der der seine Universitätslaufbahn aus politischen Gründen aufgeben musste
   und das letzte Kriegsjahr in einem Arbeitslager verbrachte) oder Rudolf Fahrner (der
   im Freundeskreis der Brüder Stauffenberg ein Manifest für ein von Hitler befreites
   Deutschland formulierte) waren seltene Ausnahmen.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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