Kontinuitätslinien, Brüche, Innovationen

Was die im Jahr der nationalsozialistischen Machergreifung publizierten „Bekennerschreiben“ von Fachvertretern immer wieder als Indizien einer „krisenhaften“ und „chaotischen“ Situation herausstellten – die Pluralität von Wissensansprüchen, die Fraktionierung von Schulen und Richtungen und die fortlaufenden Auseinandersetzungen um Konzepte und Verfahren – hatte als Produkt des wissenschaftlichen Modernisierungsprozesses schon frühzeitig zu Klagen geführt: Seit der Trennung von Alt- und Neugermanistik und den fortschreitenden Prozessen ihrer Binnendifferenzierung, die in der Lösung von philologischer Mikrologie und exakter Quellenkritik ihren Ausgang genommen hatte, beherrschte eine fortgesetzte Verfallsdiagnostik die Stellungnahmen zur Verfassung der deutschen Literaturwissenschaft. Die bis in die 1930er Jahre fortgeschriebenen Krisendiagnosen präfigurierten die unmittelbar nach der Machtergreifung vorgelegten Ortsbestimmungen und Neuentwürfe einer Disziplin, die sich – insbesondere durch Partizipation an der Deutschkunde-Bewegung nach der Jahrhundertwende – stets auch als Sachwalter „deutschen Geistes“ und „deutscher Kultur“ verstanden hatte und dieses Selbstverständnis nun mit spezifischen Modifikationen forcierte. Hatte in den auf „Geist“ und „Leben“ rekurrierenden Bemühungen der um 1910 antretenden Germanistengeneration die „Scherer-Schule“ und ihr vorgeblicher „Positivismus“ die zu bekämpfende Vaterfigur eingenommen, dem akademisches Spezialistentum und Lebensferne vorgeworfen wurden, reaktivierten und überboten die programmatischen Entwürfe von 1933 diese Affekte, wenn sie sich gegen methodische Zersplitterung, Werterelativismus und quantitative Überproduktion der jüngsten Fachentwicklung wandten. In den Manifesten Gerhard Frickes, Walther Lindens und Karl Viëtors figurierte die Aufhebung polarisierter Klassen- und Interessengegensätze als Vorbild für eine Gesundung ihrer an „Relativismus“ und „Liberalismus“ krankenden Disziplin; in Analogie zur „Gleichschaltung“ des verwirrenden politischen Spektrums suchte man nach einem methodologischen Fundament, das eine Übereinkunft der auseinanderdriftenden Richtungen und Schulen versprach und einer geeinten Germanistik als dem „Kerngebiet der Bildung“ (W. Linden) neue Reputation sichern sollte. Übereinstimmung bestand in der Ablehnung eines als „positivistisch“ denunzierten Wissenschaftsverständnisses: Die Verabschiedung von „Wertfreiheit“ und „Voraussetzungslosigkeit“ sollte die Kontingenz differierender Zugriffe überwinden, ein als verderblich empfundener Pluralismus durch Einigung auf ein Paradigma aufgehoben werden. „Damit wird die Überwindung der schlimmen Zersplitterung, ja der akuten Auflösung möglich, in der sich die deutsche Literaturwissenschaft befand“, hoffte Gerhard Fricke und projektierte eine perspektivische Erkenntnistheorie, die an Stelle der „Willkür des einzelnen Individuums bzw. eines sektenhaften Kollektivindividuums“ eine „völkisch-ganzheitliche“ Deutungs- und Wertungsinstanz setze. [90] Einigkeit herrschte – zumindest verbal – ebenfalls hinsichtlich der Zentrierung der „völkischen Gemeinschaft“ zum Ausgangs- und Zielpunkt der Literaturforschung: Wenn „Dienst am Leben“ und „Kunde vom deutschen Wesen“ nun die hervorragenden Aufgabe der Germanistik seien, habe sie „all ihr objektives Wissen in den Dienst einer subjektiven Wertung“ zu stellen – „aber einer Wertung, deren Wertmaßstäbe aus dem völkisch organisierten Leben stammen, weil sie eben im Dienste dieses Lebens stehen.“ [91]
Die immer wieder behauptete, doch methodisch ungeklärte Substitution von „Wertfreiheit“ und „Voraussetzungslosigkeit“ durch die Einnahme „völkisch-ganzheitlicher“ Deutungs- und Wertungsperspektiven suggerierte jedoch allenfalls Einvernehmen. Ein diskursiver Wertbildungsprozess war den vorgelegten Entwürfen ebenso wenig vorausgegangen wie sich eine ernsthafte Diskussion anschloss. Die Einebnung von Gegensätzen realisierte sich primär durch Beschwörung nationalpädagogischer Werte, die noch im Jahr der Machtergreifung auf Kritik von Fachvertretern stießen. Sechs Jahre später klassifizierte ein umfangreicher Bericht des Sicherheitsdienstes der SS die 1933 verfassten Programme als „Konjunkturschrifttum“, das „bereits heute vergessen sei“; die „völlig überstürzte ‚Umschaltung‘ auf dem Wissenschaftsgebiet“ hätte „gerade liberale Germanisten“ motiviert, „sich durch solche oberflächlich ausgerichteten Programme eine weltanschauliche und politische Deckung zu verschaffen.“ [92]
Die SD-Observanten der Wissenschaftslandschaft sahen die nach 1933 vollzogenen Entwicklungen mehr oder weniger richtig. Die hochfliegenden Programmschriften mit ihren Entwürfen einer monoparadigmatischen und politisch dienstbaren Germanistik erwiesen sich als nicht einlösbare Versprechen; divergierende Methoden prägten die Literaturforschung weiterhin. Diesen Befund bestätigten auch die beteiligten Akteure: Als Paul Kluckhohn 1940 einen Überblick über die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft seit der „Machtergreifung“ gab, erkannte er in der kognitiven Binnendifferenzierung des Faches nach der „geistesgeschichtlichen Wende“ um 1910 einen weitaus stärkeren Innovationsschub als in den disziplinären Umorientierungen nach 1933. Die seit der Jahrhundertwende verfolgten Richtungen in Literaturgeschichtsschreibung und Literaturwissenschaft hätten auch im Dritten Reich weitergewirkt; durch die Verlagerung des wissenschaftlichen Interesses „auf den Problemkomplex Volk und Dichtung, auf die Dichtung als Ausdruck der Substanz Volk und auf die Bedeutung der Dichtung für das deutsche Volk in seiner Gesamtheit“ seien die Differenzen zwischen unterschiedlichen Deutungs- und Erklärungsansätzen nicht aufgehoben worden. [93] Die kognitive Binnendifferenzierung des Faches belegte Kluckhohn durch Hinweise auf unterschiedliche und nach 1933 fortgesetzte Forschungsprogramme: Neben der dominierenden Geistesgeschichte habe Nadlers stammesethnographische Literaturgeschichtsschreibung an Wirkungskraft gewonnen. Daneben seien verschiedene Neuansätze zu konstatieren, so eine „existentielle Literaturbetrachtung“. Eine „rassenkundliche Literaturwissenschaft“ sei dagegen nur „ansatzweise oder vorschnell mit zweifelhaftem Erfolg in Angriff genommen“. – Die hier artikulierte Akzeptanz eines wissenschaftlichen Pluralismus korrespondierte der Einsicht Julius Petersens, der 1939 den ersten Band seiner methodologischen „Summe“ Die Wissenschaft von der Dichtung vorlegt hatte und angesichts der „vielfach widerstrebenden Richtungen“ einen „kritischen Überblick ... über alle Methoden, die an literaturwissenschaftliche Aufgaben anzusetzen sind“, bieten wollte. [94] Dass er dabei vorrangig auf Ansätze und Programme rekurrierte, die weit vor 1933 entstanden waren, bestätigte, dass sich weder die von parteiamtlichen Wissenschaftsgremien bevorzugte Rassenkunde noch stammestheoretische Reduktionen als leitende Paradigmen durchsetzen konnten. (Für die Bemühungen um Wahrung professioneller Standards sprachen die durch keine Invektiven getrübten Bezüge auf Arbeiten französischer und englischer Literarhistoriker ebenso wie die sachliche Erwähnung verfemter Autoren wie Ernst Barlach, Walter Hasenclever, Heinrich Heine, Franz Kafka und Else Laske-Schüler; vgl. auch Boden 1987). Akzeptierte man den offensichtlich unaufhebbaren Pluralismus stillschweigend, gingen in der Frage seiner Bewertung die Meinungen auseinander. Franz Koch, 1939 vom Reichserziehungsministerium zu einer Stellungnahme hinsichtlich des geplanten „Weltkongresses der Germanisten“ aufgefordert, beklagte neben der institutionellen Unfähigkeit der deutschen Germanistik zur Ausrichtung einer internationalen Tagung die weitgehende Ergebnislosigkeit einer erhofften paradigmatischen Wende. Zwar vollziehe sich „gerade in den geisteswissenschaftlichen Methoden ein grundsätzlicher Umbruch“, der „zweifellos und wiederum begreiflicherweise auf dem Gebiete der Germanistik das stürmischste Tempo gewonnen“ habe. Von einer Darstellung der nach 1933 erzielten wissenschaftlichen Ergebnisse im internationalen Maßstab aber sei angesichts offenkundiger Defizite abzuraten. [95] Als das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 20. Juli 1939 die Pläne für ein „Welttreffen der Germanisten“ vorerst ad acta legte, hieß es in der als vertraulich eingestuften Begründung: „Der weltanschauliche Umbruch auf dem Gebiete der Germanistik läßt es geboten erscheinen, diesem Plan erst dann näherzutreten, wenn die Ergebnisse nationalsozialistischer Wissenschaftsarbeit auf diesem Gebiete zu einer gewissen Reife gelangt sind.“ [96]
Diese knappen Hinweise dürften den Fortbestand einer gewissen konzeptionellen und methodischen Vielfalt der Literaturforschung auch unter den Bedingungen nationalsozialistischer Lenkungsansprüche dokumentiert haben. Fragt man nach den konkreten Realisationen dieser konzeptionellen und methodischen Vielfalt und berücksichtigt nicht nur Programmentwürfe und Selbstbeschreibungen, sondern die Gesamtheit der Forschungsleistungen sowie Lehrer-Schüler-Verhältnisse, Lehrstuhlbesetzungen, Forschungs- und Editionsprojekte und die Tätigkeit der Fachorgane, ergibt sich folgender Befund:
  1. Die Varianten der geistesgeschichtlichen Literaturforschung behaupteten ihre dominierende Stellung. Weder stammesethnographische Literaturbetrachtung noch rassentheoretisch begründete Reduktionen oder die seit Ende der 1930er Jahre verfolgten Ansätze der später wirkungsmächtigen „werkimmanenten Interpretation“ konnten sie verdrängen (Dainat/ Kolk 1995, 127). Die ungebrochene Dominanz zeigt sich auch in der Personal- und Berufungspolitik: Zwar lässt sich in der NS-Zeit keine ausgeprägte Präferenz für eine bestimmte methodische Ausrichtung erkennen, dennoch war die Mehrzahl der nach 1933 neuberufenen Ordinarien in akademischer Sozialisation und ihren Arbeiten der Geistesgeschichte verpflichtet – so Gerhard Fricke, der 1934 eine ordentliche Professur in Kiel erhielt; Heinz Kindermann, der 1937 von Danzig nach Münster wechselte oder Walther Rehm, der 1938 einen Ruf nach Gießen annahm. 1938 besetzte Herbert Cysarz, der zumindest in seiner berüchtigten Rhetorik der Geistesgeschichte nahe stand, den Lehrstuhl Walther Brechts in München. Mit Paul Böckmann, Hans Pyritz und Friedrich Wilhelm Wentzlaff-Eggebert, die Ende der 1930er bzw. Anfang der 1940er Jahre zu ordentlichen Professoren berufen wurden, gelangten geistesgeschichtlich orientierte Wissenschaftler in akademische Schlüsselpositionen, die sie auch nach Ende des Regimes behielten. Sie sicherten die Kontinuität des Programms über das Jahr 1945 hinaus. Das auf Wilhelm Dilthey zurückgehende Integrationsprogramm der kulturhistorischen Wissenschaften, das in den länger verfolgten Richtungen von „Ideen-“ und „Problemgeschichte“ methodisch einflussreiche Ableger hervorgebracht hatte, zielte auf die Erschließung einer in Dichtung und Literatur objektivierten und transpersonalen Einheit („Geist“), deren genetische Entwicklungsstufen aus vorgängig zusammengefassten Werken bzw. Werkgruppen herauspräpariert werden sollten. Dieser überwiegend epochenspezifisch gedachte „Geist“ war bereits in den 1910er und 1920er Jahren mit nationalspezifischen Dispositionen (und entsprechenden Bewertungen) aufgeladen worden; „westliche Aufklärung“ und „Deutsche Bewegung“, die „Ideen von 1789“ und die „Ideen von 1914“ avancierten zu Realisationen diametraler geistiger Prinzipien. [97] Diese Separationen zogen weitreichende Konsequenzen nach sich. Mit der Ausblendung gesellschaftsgeschichtlicher Determinanten, dem wachsenden Einfluss lebensphilosophischer Vorstellungen und der zunehmenden Akzeptanz nationalistischer Wertungsmuster verabschiedete die deutsche Literaturforschung schon vor 1933 die Idee einer im gesamteuropäischen Kontext vollzogenen Kulturbewegung weitgehend (Dainat 1998). Die sich nach der NS-Machtergreifung verstärkende Präferenz für das Deutsche und seine nebulösen Attribute schränkte die Thematisierungen geistig-kultureller Austauschbeziehungen oder sozioökonomischer Faktoren noch mehr ein. Exemplarisch dafür waren die Beiträge des Gemeinschaftswerkes Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Dem im Vorwort formulierten Anspruch, „deutsche Art“ und „deutsches Wesen“ zu entbergen, folgten alle Abhandlungen; besonders starke Oppositionskonstruktionen aber prägten den in Band 4 enthaltenen Themenkomplex Die schöpferische Selbstverwirklichung in der Goethezeit. Die Ermittlung eines spezifisch deutschen Wesens in den Kulturbewegungen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts vollzog sich durch rigide Abgrenzungen, die in Denkfiguren und martialischer Rhetorik demonstrierten, wie Vorgaben der politischen Umwelt und langfristig wirksame Deutungsmuster des literaturwissenschaftlichen Diskurses nun die Rede über Literatur dirigierten. Heinz Kindermann bestimmte in seinem Beitrag Die Sturm- und Drangbewegung im Kampf um die deutsche Lebensform die erste Phase der „deutschen Bewegung“ als „bewußt kämpferischen Akt, der sich gegen alle Fremdzüge des aufklärerischen Weltbildes, vor allem aber auch gegen jene westisch vorgeformten, mechanistisch-individualistischen Eigenheiten wendet, die jede aktive Hingabe des Einzelnen an die großen Gemeinschaften des Staates, des Reiches, der Nation unterbinden“ (S. 6). Wolfdietrich Rasch fasste Herders deutsche Weltanschauung im strapazierten Begriff der „organischen Anschauungsweise“ zusammen, die als „Gegenschlag gegen den westlich-rationalistischen Dualismus und Mechanismus“ entstanden sei (S. 65). Karl Justus Obenauer fixierte u.d.T. Die Naturanschauung der Goethezeit ein spezifisch deutsches Naturverhältnis in gegensätzlichen, im „deutschen Gemütsgrund“ jedoch zusammenfallenden Erlebnisformen: typisch deutsch sei, die Natur mythisch und spekulativ, empfindsam und sachlich zu begreifen sowie als „Gegenstand eines arteigenen lebendigen Frommseins“ zu erleben (S. 202f.). Paul Merker konstatierte in seinem Vergleich Deutsche und skandinavische Romantik die „stärkere seelische Differenzierung“ der deutschen Romantik und erklärte den Unterschied zwischen „naiverem, naturgebundenerem, unproblematischerem Norden“ und der „tieferen“ deutschen Literatur aus „rassischen Bedingtheiten“ (S. 249). Ernst Beutler schließlich suchte zu zeigen, dass der Faust kein „Weltgedicht“, sondern eine „Metaphysica Teutsch“ sei (S. 251). Dazu bemühte er eine geistesgeschichtliche Traditionsreihe dynamisch-vitalistischer Weltsicht, die mit Paracelsus und Jakob Böhme begonnen habe und über Leibniz und Schelling bis zu Goethes Abwehrkämpfen gegen den französischen Geist reiche.Doch versanken keineswegs alle der Geistesgeschichte verpflichteten Beiträge der Literaturforschung in eine heroische Rhetorik zur wortreichen Umkreisung „deutschen Wesens“. Beispiele für mögliche Alternativen – und zugleich für die kontinuierliche Fortsetzung längerfristig verfolgter Programme – waren u.a. der 1940 veröffentlichte dritte Band von Hermann August Korffs Lebenswerk Geist der Goethezeit, die begriffsgeschichtlichen Explorationen Rudolf Ungers sowie die problemgeschichtlichen Forschungen Walther Rehms zur deutsch-antiken Begegnung, die der Münchener Privatdozent und nachmalige Gießener und Freiburger Ordinarius in der umfangreichen Monographie Griechentum und Goethezeit (Leipzig 1936, 21938, 41969) und in zahlreichen Einzelstudien vorlegte.
  2. Die konzeptionell heterogenen Anläufe zu einer stammesethnographisch bzw. rassentheoretisch fundierten Literaturforschung profitierten von den Veränderungen in der politischen Umwelt nur bedingt. In der Frontstellung gegen die „idealistische Hypostasierung des Individuums“ (Franz Koch) übereinstimmend, betonten sie die Abhängigkeit literarischer Produktionen von „überindividuellen Gemeinschaftsformen“ wie „Volk“, „Stamm“, „Landschaft“ und „Rasse“ und schienen mit ihren deterministischen Reduktionen der eklektischen NS-Weltanschauung am nächsten zu kommen. Josef Nadlers ethnographische Literaturgeschichte, die bereits in den 1910er Jahren „Stamm“ und „Landschaft“ als Zentralkategorien fixiert und literarhistorische Prozesse auf das „Organon der völkischen Verbände“ zurückgeführt hatte, erschien zwar neu bearbeitet zwischen 1938 und 1941 im Berliner Propyläen-Verlag und erntete vermehrte Aufmerksamkeit – doch direkte Anschlüsse blieben selten und sein Werk sowohl Fachvertretern wie politischen Instanzen suspekt. Während ein umfänglicher Beitrag in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Nadlers stammeskundliche Schrifttumsgeschichte als Geburtsurkunde einer „in statu nascendi“ befindlichen und „noch namenslosen“ Wissenschaft würdigte (und sie mehr oder weniger deutlich aus dem Diskurs der Literaturwissenschaft ausschloss), gingen nationalsozialistische Kollegen unverblümt auf Distanz. Bedenken wissenschaftspolitischer Entscheidungsträger gegen den (katholisch gebundenen) Schrifttumshistoriker wirkten sich auf Nadlers akademische Karriere und zugleich auch auf die Literaturforschung aus: Als der Wiener Ordinarius 1939 zum korrespondierenden Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt werden sollte (wofür sich alle Mitglieder der Deutschen Kommission und vorrangig Julius Petersen eingesetzt hatten), verhinderte ein „entschiedener Einspruch von Seiten der Partei“ die Behandlung seiner Wahl im Plenum. Daraufhin kündigte Nadler die Arbeit an der Hamann-Ausgabe und attestierte der Akademie, fachlich falsch beraten und administrativ unzulänglich geführt zu sein. [98] Nach mehrfachen Beschwichtigungsversuchen lenkte der Wiener Ordinarius ein und unterzeichnete eine den Streit beilegende Erklärung; die Ausgabe der Werke Hamanns blieb dennoch bis Kriegsende unrealisiert. Erst 1949 konnte im Wiener Herder-Verlag der erste Band erscheinen, dem sich bis 1954 in pünktlicher Jahresfolge fünf Bände anschlossen. – Die Ursachen für die Erfolglosigkeit der stammesethnographischen Literaturforschung sind in den retardierenden Momenten innerhalb des Wissenschaftssystems zu suchen: Nadlers Erklärung literarischer Entwicklungen aus Familiengeschichte und Landschaftserlebnis, bereits in den 1920er Jahren skeptisch beobachtet und zurückgewiesen, vermochte sich unter den nur scheinbar günstigeren Rahmenbedingungen nicht durchzusetzen. Selbst der Anschluss an die 1934 noch zurückgewiesenen Prinzipien der Rassentheorie zeitigte nicht den erhofften Erfolg: In seiner Rezension der „völlig neu bearbeiteten“ und seit 1938 erscheinenden Literaturgeschichte des deutschen Volkes bemerkte Karl Justus Obenauer, auch in der Neubearbeitung trete „das Eigenleben der deutschen Stämme stärker hervor als die in Blut der Rasse gegründete Gemeinschaft. Den Gesichtspunkt der gemeinsamen Rasse hat Nadler nicht deutlich zugrunde gelegt; er hätte sich dann auch zu durchgreifenderen Änderungen entschließen müssen.“ [99]Die hier angemahnte Berücksichtigung der „Rasse“ sollte für andere Arbeiten zur deutschen Literatur konstitutive Bedeutung gewinnen – ohne dass der Rückführung des literarischen Produktionsprozesses auf rassenbiologische bzw. konstitutionstypologische Determinanten personaler Träger hegemonialer Einfluss zuwuchs. Der Rassebegriff – „zentrale Kategorie der Literaturwissenschaft des Dritten Reiches, die sie von allen vorhergehenden Bestrebungen absetzt“ [100] – blieb trotz politischer Konformität und umfassender Propagierung ein der Universitätsgermanistik äußerliches Attribut; der Mangel an Anschluss- und Durchsetzungsfähigkeit zeigte sich mit der Zäsur des Jahres 1945, als der Zusammenbruch des NS-Systems das sang- und klanglose Ende rassentypologischer Klassifikationen brachte.
  3. Für die in den 1920er Jahren beobachtbaren literatursoziologischen Ansätze bedeutete die politische Zäsur des Jahres 1933 keine Sternstunde. Zwar entstanden unmittelbar nach der Machtergreifung programmatische Entwürfe, die die Vermutung nährten, eine soziologisch oder sozialhistorisch orientierte Literaturforschung komme der verbalen Hinwendung zu „Volk“, „Volkstum“ und „völkischen“ Werten durchaus entgegen. Der Geist der Zeit und das Bedürfnis, literarische Kommunikation und Produktion zu steuern, schien eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den sozialen Voraussetzungen für Produktion, Distribution und Konsumtion von Literatur zu favorisieren – doch die idealistische Abneigung vieler Repräsentanten des Faches gegenüber sozialhistorischer Forschung verhinderte die Ausweitung solcher Ansätze. Zugleich schlug die in den Bekennerschreiben demonstrativ erklärte „Völkisierung“ der Forschung negativ aus: Die Erhebung von „Volk“ und „Volkstum“ zu Ausgangs- und Zielpunkt der literaturwissenschaftlichen Praxis vollzog sich eher in der Beschwörung von Werten als durch begriffliche Explikation; der inflationär gebrauchte Volksbegriff wurde nur selten aus dem mythischen Dunkel geraunter Phrasen entborgen, die „Volk“ nicht mehr als ethnische Einheit in Sprache und Kultur, sondern als „Schicksalsgemeinschaft“ in einer „vorsprachlichen Einheit des Blutes“ verorteten. Der zähe Widerstand gegen soziologische Empirie, die mit bürgerlicher Gesellschaft, Materialismus oder Marxismus gleichgesetzt wurde, einte die ihren konservativen Idealismus pflegenden Fachvertreter. 1942 konnte Hans Pyritz in einer Übersicht über die Entwicklung der Romantikforschung feststellen, dass „sozialliterarische Methoden“ in der Gegenwart „erledigt“ seien. [101]
  4. Als wohl wichtigste kognitive Innovation innerhalb der universitätsgermanistischen Literaturforschung der NS-Zeit entstanden Ende der 1930er Jahre verschiedene Programme, die in ihrer Wendung zum Einzelwerk und seiner ästhetischen Konfiguration als Anfänge der später wirkungsmächtigen „werkimmanenten Interpretation“ gelten können: (a) Bestrebungen, poetische Texte als Ausdruck poetisch geformter Individualität zu behandeln und mit Emil Staiger „zu begreifen, was uns ergreift“; (b) Bemühungen, formale Gestaltungsprinzipien von Gattungen und Einzelwerken zu analysieren; (c) Versuche, das Gehalt-Gestalt-Gefüge des literarischen Werkes in Analogie zu natürlichen Prozessen „morphologisch“ zu deuten. Alle diese Anläufe, zu denen auch Paul Böckmanns in den 1930er Jahren begonnene Recherchen für die 1949 veröffentlichte Formgeschichte der deutschen Dichtung zu rechnen sind, suchten zu einer „immanenten“ Erfassung des literarischen Kunstwerks vorzudringen, um so die Kontingenz geistesgeschichtlicher, stammesethnographischer oder rassenkundlicher Typologisierungen zu überwinden. Den programmatischen Kernpunkt der auf das „Werk“ fixierten Zugänge bildeten Maximierungsannahmen zur Rechtfertigung der Eigenständigkeit der literaturwissenschaftlichen Interpretation: Indem man das literarische Kunstwerk als in höchstem Maße kohärent, bedeutungsträchtig, gestalthaft erklärte, konnte das eigentliche Ziel der Beschäftigung mit Literatur im ästhetisch ausgezeichneten Gegenstand angenommen und jede „außerliterarische“ Behandlung dieser Texte – von psychologischen bis „politisch-tendenzhaften Betrachtungen“ – als a priori verfehlt erklärt werden (Danneberg 1996; Dainat 1997, 125f.). Befördert wurden diese Bemühungen von Heideggers Hölderlin-Exgesen und dem in ihnen demonstrierten Rückzug von vordergründiger Aktualisierung sowie von den Forderungen der Schule nach im Unterricht verwendbaren Interpretationen und Interpretationshilfen.
Überschaut man die Formen eines wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur in der Zeit zwischen 1933 und 1945, sind widerstreitende Befunde zu konstatieren. Geprägt von einer oft nur schwer zu trennenden Melange aus Differenzierungsbestrebungen und dem Drang zu metahistorischer Integration, fand die germanistische Literaturforschung in der NS-Zeit zu Einsichten und Wissensbeständen, die als innovativ gelten können: Eine präzisere Vermessung der deutschen Mystik, die Fixierung der literaturgeschichtlichen Epoche „Biedermeier“, die weitere Bearbeitung der (systemkonformen) Gegenwartsliteratur sowie die Wendung zur textimmanenten Interpretation waren Ergebnisse einer Modernisierung innerhalb mehr oder weniger traditioneller Strukturen (Boden 1996; Gärtner 1997, 64-66). Eines der letzten Ergebnisse dieser Bemühungen um den Anschluss an aktuelle Entwicklungen im Kunst- und Literatursystem war die von Franz Koch betreute und am 20. April 1945 an der Berliner Universität verteidigte Dissertation Dichterische Gestaltung der ethischen Probleme im Werke E. G. Kolbenheyers von Ingeborg Neubert, die nach ihrer Heirat ein Jahr später Ingeborg Drewitz heißen und zu einer namhaften Schriftstellerin der BRD aufsteigen sollte (Höppner 1998, 125-127). Zugleich nahm die universitäre Literaturwissenschaft im Verzicht auf kritische Reflexionen ihrer Leistungsbeziehungen und ihres Verhältnisses zur gesellschaftlichen Umwelt verhängnisvolle und z.T. nicht wieder gutzumachende Verluste und Verfehlungen in Kauf: Von der schweigend hingenommenen Vertreibung jüdischer Kollegen über die Ignoranz bestimmter literarischer Tendenzen, Arbeitsformen und Erklärungsprinzipien bis hin zur willfährigen Teilnahme an den Maßnahmen kultureller Legitimationsbeschaffung im geisteswissenschaftlichen „Kriegseinsatz“. Nicht hinterfragte Loyalität gegenüber einem militanten Staat und weitgehende Opportunität gegenüber einer inhumanen Staatspartei führten trotz der immer wieder vorgebrachten Formeln vom aufopferungsvollen „Dienst“ an der Literatur zu jenen Defiziten, die der Literaturforschung teuer zu stehen kamen: Die kognitive Unergiebigkeit der Reden über „deutsche Art“ und „deutsches Wesen“ konnte durch überbordende Rhetorik nicht übertüncht werden; Erschließung und Archivierung, Edition und Kommentar – zentrale Aufgaben einer verantwortungsbewussten Literaturforschung – wurden mit verhängnisvollen Folgen vernachlässigt.
Bis es in der professionalisierten Literaturforschung in BRD und DDR zu einem wirklichen Wandel in Kanon und Deutungsmustern kam, sollten noch Jahre vergehen. Erst mit dem Ausscheiden der älteren, in der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Herrschaft akademisch sozialisierten Germanistengeneration und dem Nachrücken einer jungen, überwiegend nach 1945 ausgebildeten Kohorte (für die in der BRD Carl Otto Conrady, Eberhard Lämmert, Walter Müller-Seidel, Wolfgang Preisendanz und Albrecht Schöne, in der DDR Claus Träger, Edith Braemer, Inge Diersen, Hans Jürgen Geerdts, Hans Kaufmann, Siegfried Streller und Ursula Wertheim standen) setzten sich endgültig jene Transformationen durch, die neben einer Perspektivierung der sozialen Dimensionen literarischer Produktions- und Rezeptionsprozesse auch zu einer Problematisierung der eigenen wissenschaftlichen Praxis führten.

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Kontinuitätslinien, Brüche, Innovationen
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