Getrennte Wege, gemeinsame Probleme. 1945–1966
Der Zusammenbruch des NS-Regimes und die damit
   verbundene politische Zäsur hatte für das
   Wissenschaftssystem und also auch für die
   Literaturwissenschaft in Deutschland weitreichende
   Folgen – selbst wenn diese nicht unmittelbar 1945
   und in den darauf folgenden Jahren, sondern
   teilweise erst Jahrzehnte später offensichtlich
   werden sollten. Wichtig wurde die von den
   Siegermächten verfügte Teilung des Landes, die
   divergierende kultur- und wissenschaftspolitische
   Rahmenbedingungen für die universitäre bzw.
   akademische Beschäftigung mit Literatur schuf. In
   der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) führte eine
   zunächst rigorose Entnazifizierungspolitik und die
   Abwanderung von Wissenschaftlern zu einer
   desolaten Personalsituation, die eine von der
   Besatzungsmacht intendierte Umgestaltung der
   Wissenschaftslandschaft erschwerte und die
   Bewahrung fachspezifischer Standards auch im
   Rahmen veränderter Konstellationen möglich machte.
   Der institutionelle wie konzeptionelle Neuaufbau
   der universitären Literaturwissenschaft in der SBZ
   und der späteren DDR erfolgte nicht als
   kurzfristiger Umbruch, sondern als komplizierter
   und langwieriger Prozess, der erst mit der
   Etablierung einer neuen Generation von
   Hochschullehrern Ende der 1950er bzw. Anfang der
   1960er Jahre abgeschlossen war. – Auch in den
   westlichen Besatzungszonen und der gleichfalls
   1949 gegründeten BRD dominierte in den zwei
   Jahrzehnten nach der politischen Zäsur des Jahres
   1945 weitgehend Kontinuität: Die Institutionen
   einer professionalisierten Erforschung und
   Vermittlung von Literatur nahmen relativ rasch
   wieder ihre Arbeit auf; ihr Personalbestand blieb
   – nach Austausch einzelner „Sündenböcke“ wie
   Herbert Cysarz (München), Karl Justus Obenauer
   (Bonn) oder Hermann Pongs (Göttingen) – mehr oder
   weniger erhalten. Emigranten hatten nur selten
   eine Chance, ihren gewaltsam unterbrochenen
   Einsatz für die Literatur fortzusetzen;
   kommunikative Plattformen und
   Reputationshierarchien gewannen nach einiger Zeit
   wieder die alte Bedeutung.
Die personellen und konzeptionellen
   Kontinuitätslinien der deutschen
   Literaturwissenschaft demonstriert der 1942
   veröffentlichte Sammelband Gedicht und Gedanke.
   Der im Verlag von Max Niemeyer erschienene Band,
   dessen Vorwort der Herausgeber Hans Otto Burger
   auf einem Truppenübungsplatz verfasst hatte,
   enthielt nicht nur 30 Auslegungen deutscher
   Gedichte, die in Verfahren und Darstellungsform
   die „textimmanenten Interpretationen“ der
   Nachkriegszeit vorwegnahmen, sondern versammelte
   auch wichtige Akteure der Literaturforschung nach
   dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft: Joachim
   Müller, der im literaturwissenschaftlichen
   Gemeinschaftswerk das Gedicht Durchwachte Nacht
   der Anette von Droste-Hülshoff erläutert hatte,
   wirkte von 1951 bis 1971 als Professor in Jena und
   wurde hier zum Lehrer von DDR-Germanisten wie
   Edith Braemer, Helmut Brandt, Hans Richter, Rainer
   Rosenberg, Hans Günther Thalheim oder Ursula
   Wertheim. Der gleichfalls beteiligte Ordinarius
   Ferdinand Josef Schneider blieb bis zu seinem Tode
   1954 Lehrstuhlinhaber an der
   Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale.
   Beiträger, die in den Westzonen bzw. der späteren
   Bundesrepublik weiterwirken sollten, waren Hermann
   Schneider (seit 1921 bis zur Emeritierung 1954
   ordentlicher Professor für ältere deutsche
   Literatur in Tübingen), Paul Böckmann (von 1938
   bis 1958 Professor in Heidelberg, danach bis zur
   Emeritierung 1965 in Köln), Günther Müller
   (1946-56 Professor in Bonn), Friedrich Sengle
   (1952-59 Professor in Marburg, 1959-65 in
   Heidelberg, 1965-78 in München) und Heinz Otto
   Burger (1944-61 Professor in Erlangen, 1961-69 in
   Frankfurt/Main). Mit einer Interpretation von
   Hölderlins Ode Heidelberg war auch der in Zürich
   wirkende Emil Staiger vertreten, der zu einem der
   wichtigsten Protagonisten der „werkimmanenten
   Interpretation“ und einem der prominentesten
   Fachvertreter nach 1945 aufsteigen sollte. Knapp
   ein Vierteljahrhundert nach seiner Beteiligung am
   Sammelband Gedicht und Gedanke brach Staiger mit
   seiner Züricher Rede Literatur und Öffentlichkeit
   am 17. Dezember 1966 dann jenen Streit vom Zaun,
   der endlich zu einer kritischen Reflexion der
   (auch mit seinem Namen verbundenen) Ausrichtung
   der Literaturwissenschaft und ihren normativen
   Vorannahmen führen sollte. Im gleichen Jahr
   thematisierte der Münchener Germanistentag
   erstmals öffentlich die Verfehlungen der
   „deutschen Wissenschaft“ in der NS-Zeit und
   initiierte eine kritische Reflexion über
   politische Funktionen und Funktionalisierungen der
   Literaturforschung (von Wiese/ Henss 1967, Lämmert
   u.a. 1967). Doch es geschah noch mehr. In den USA
   erschien Susan Sonntags Essaysammlung Against
   Interpretation, dessen (bereits 1964 entstandener)
   Titel-Aufsatz statt einer „Hermeneutik“ eine
   „Erotik der Kunst“ forderte; in Baltimore begann
   Ende Oktober 1966 der Kongress „The Languages of
   Criticism and the Science of Man“, der eine
   kritische Diskussion strukturalistischer Konzepte
   und somit den Poststrukturalismus
   einleitete.
Bis dahin hatten sich in der Literaturwissenschaft
   in Ost und West tief greifende Veränderungen
   vollzogen, die im folgenden knapp zu skizzieren
   sind. Der erste Abschnitt rekonstruiert die
   Bewegungen von Restauration und Modernisierung in
   der universitären Beschäftigung mit Literatur in
   der BRD und in Westeuropa. In einem zweiten
   Schritt werden die komplizierten und
   widerspruchsvollen Versuche zur Gestaltung einer
   neuen Literaturforschung in der DDR und in
   Osteuropa nachgezeichnet, die – ähnlich wie die
   Vorgänge in der BRD und Westeuropa –
   übergreifenden Prozessen der
   Wissenschaftsentwicklung
   korrespondierten.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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