Beobachtung und Beschreibung. Formalismus und Strukturalismus
Während sich die deutsche Literaturwissenschaft unter dem Einfluss von Philosophie
   und Kunstwissenschaft der Konstruktion groß angelegter „Synthesen“ widmete, vollzogen
   sich in der Literaturforschung der europäischen Nachbarn Veränderungen, die nicht
   zu unterschätzende Folgen haben sollten. In Frankreich fand seit Beginn des 20. Jahrhunderts
   das Programm einer „explication de textes“, das auf eine Analyse von Stil und Komposition
   literarischer Werke zielte, zunehmende Verbreitung an Universitäten und Lyzeen – auch
   wenn die normierte Verbindung von Lektüre und Interpretation eher ein Hilfsmittel
   der Pädagogik als ein methodologisches Prinzip der Literaturwissenschaft darstellte.
   Seit 1915 wandelte sich auch die Literaturwissenschaft in Russland: In Moskau und
   Sankt Petersburg entstanden in den Arbeiten von Boris Michajlovič Ėjchenbaum (1886-1956),
   Roman Osipovič Jakobson (1896-1982), Viktor Borisovič Šklovskij (1893-1984), Jurij
   Nikolajevič Tynjanow (1894-1943) und anderen jungen Philologen neuartige Beobachtungsverfahren,
   die im Unterschied zur auch hier herrschenden philologisch-historischen Behandlung
   von Literatur nach der spezifischen Differenzqualität poetischer Texte bzw. ihrer
   „литературность“ (literaturnost’; Literarizität) fragten (Erlich 1955/1964; Striedter
   1969; Hansen-Löve 1978). Ihre Bemühungen um eine eigene Terminologie für die Beschreibung
   literarischer Texte profitierten von den Vorleistungen einer Sprachwissenschaft, die
   – von der Phänomenologie Edmund Husserls in besonderer Weise angeregt – die Funktionen
   der menschlichen Sprache erforschte. Wenn Sprache als zentrales Zeichensystem und
   gleichsam natürlicher Prototyp jedes mit Bedeutung versehenen Ausdrucks angesehen
   wurde, hatte das weitreichende Folgen für ihre wissenschaftliche Behandlung: Linguistische
   Fakten waren nicht nur im Hinblick auf ihre historische Entwicklung, sondern auch
   in ihrem Funktionieren in aktuellen Sprachformen zu untersuchen. Zugleich konnte über
   die empirischen Daten der vergleichenden Sprachforschung hinausgegangen und eine universale
   Grammatik zur Beschreibung der „Sprache als solcher“ projektiert werden. Bei der Vermittlung
   von Husserls Überlegungen, in den epochemachenden Logischen Untersuchungen von 1900/01
   niedergelegt, kam dem Philosophen Gustav Gustavovič Špet eine überragende Rolle zu.
   Er machte die Moskauer Philologen mit Begriffen wie „Bedeutung“, „Form“, „Zeichen“
   und „Bezugsgegenstand“ bekannt. Nachdrücklich warnte Špet vor der Gefahr, Linguistik
   und Psychologie zu verwechseln, wie es die deutsche „Völkerpsychologie“ à la Wilhelm
   Wundt und Lazarus/Steinthal praktiziert hatte. Denn Kommunikation ist nach Špet allein
   als Faktum gesellschaftlichen Verkehrs und also nicht durch individual- oder kollektivpsychologische
   Spekulationen zu erklären. Alle Ausdrucksformen und namentlich die Sprache sollten
   nicht als sekundäre Erscheinungen oder sinnliche Symptome psychischer Vorgänge behandelt
   werden, sondern als eigenständige Realitäten, die als Objekte sui generis nach einer
   strukturellen Beschreibung verlangten.
Auf der Basis einer so begründeten Begrenzung bestand die Hauptaufgabe der Sprachforschung
   darin, die intersubjektive Bedeutung einer Äußerung und ihrer Komponenten festzustellen
   sowie die besonderen Zwecke von Arten des sprachlichen „Ausdrucks“ zu bestimmen. Literarische
   Texte gewannen in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen besondere Relevanz. Zum
   ersten waren sie aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften gleichsam prädestiniert für
   die Exploration von Formen und Funktionen: Denn die poetische Sprache organisiert
   (nahezu alle) ihre Komponenten nach konstruktiven Prinzipien, um ästhetische Effekte
   zu erzielen. Zum zweiten bot die Bearbeitung literarischer Texte forschungspraktische
   Vorteile: Die traditionelle Sprachwissenschaft hatte sich für deren Prinzipien und
   Funktonen bislang wenig interessiert; eine Beschäftigung mit ihnen konnte sich auf
   diesem Feld also leichter durchsetzen, ohne von traditionellen Regeln gehemmt oder
   blockiert zu werden. Ein dritter und wichtiger Grund ergab sich aus dem kulturellen
   Umfeld: Die in Russland besonders intensive futuristische Bewegung legte in ihren
   Texten die sprachlichen Mittel in einer Weise offen, dass es möglich wurde, das Laboratorium
   der modernen Dichtung gleichsam direkt und im Prozessieren zu studieren. Die Sprachexperimente
   von Velemir Chlebnikow, Alexej Krutschenych und dem jungen Wladimir Majakowskij unterstrichen
   die besondere Funktion der poetischen Sprache und unterschieden sie dezidiert von
   allen Arten der mitteilenden Sprache. Die gesteigerte Selbstreflexivität des Literatursystems
   inspirierte so eine Forschung, die sich im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts
   zu einer organisierten Bewegung kristallisierte. 1915 gründete eine Gruppe von Studenten
   der Moskauer Universität den „Moskauer Linguistik-Kreis“; ein Jahr später vereinten
   sich in Sankt Petersburg junge Philologen und Literarhistoriker in der „Обшество изўчения
   поетического языка“ (Obščestvo izučenija poetičeskogo jazyka; dt. Gesellschaft zur
   Erforschung der poetischen Sprache), die unter der Abkürzung „Опояз“ (Opojaz) bekannt
   wurde.
Treibende Kraft des Moskauer Linguisten-Zirkels wurde Roman Jakobson, der in Studien
   über die poetische Sprache Velemir Chlebnikows nicht nur eine Analyse der lyrischen
   Mittel und Verfahren gab, sondern zugleich die formalistische Konzeption von Dichtung
   und ihrer Erforschung darlegte. In der Petersburger „Gesellschaft zur Erforschung
   der poetischen Sprache“ profilierte sich Viktor Šklovskij, der mit dem bahnbrechenden
   Aufsatz Искусство, как прием (Iskusstvo, kak priem; dt. Die Kunst als Verfahren) 1917
   eine radikale Revision der bisherigen Vorstellungen vom poetischen Bild lieferte.
   Die in literarischen Texten gebrauchte Bildsprache erklärt nicht Unbekanntes mit Hilfe
   des Bekannten, sondern verfährt genau umgekehrt: Jede Form der Übertragung „verfremdet“
   die gewohnte Wahrnehmung und lässt so etwas entdecken, was im konventionalisierten
   Umgang verschüttet bleibt. Indem die bewusst gestaltete Form künstliche Hindernisse
   zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem wahrgenommenen Objekt aufbaut, wird die
   Kette gewohnheitsmäßiger Verknüpfungen und automatischer Reaktionen unterbrochen.
   Das „Verfahren der Verfremdung“ (прием остранения) lässt die sprachlich gegebenen
   Dinge überhaupt sehen, statt sie bloß wieder zu erkennen.
Das „Verfahren“ (прием), verstanden als Technik des bewussten Herstellens eines sprachlichen
   Kunstwerks durch Formung seines sprachlichen Materials und Deformierung seines Stoffes,
   d.h. der „Wirklichkeit“, stieg zum Schlüsselbegriff des Formalismus auf. „Wenn die
   Literaturgeschichte Wert darauf legt, eine Wissenschaft zu werden, muss sie das Verfahren
   als ihr einziges Anliegen erkennen“, erklärte Roman Jakobson in seiner 1921 in Prag
   veröffentlichten Aufsatzsammlung über moderne russische Poesie. [66] Er traf sich
   darin mit Viktor Šklovskij, der in einem vielzitierten Essay über Vasili Vasil’evič
   Rosanow im gleichen Jahr definitorisch festlegte: „Ein literarisches Werk ist die
   Summe aller darin angewandten stilistischen Mittel.“ [67] Andere Komponenten des literarischen
   Textes wie ideelle Gehalte oder historische Bezugsprobleme hielt man für zweitrangig
   oder sogar für gänzlich irrelevant. Untersucht (und durch Referate bei den Versammlungen
   des Moskauer Linguisten-Zirkels vorgestellt) wurden deshalb Attribute der poetischen
   Sprache wie Epetitha, konsonantische Häufungen in Versen, metrische Formen etc. Die
   dezidiert ahistorische Konzentration der formalistischen Literaturforschung auf Ausdrucksmittel
   und Verfahren hatte mehrere Ursachen. Zum einen korrespondierte sie den Bemühungen
   der noch jungen Schule, sich von Vorgängern und Konkurrenten im wissenschaftlichen
   Feld abzusetzen – und dazu gehörte vor allem die Abgrenzung von einer biographistisch
   orientierten Philologie, die sich in der Erforschung des Nationaldichters Alexander
   Sergejewitsch Puschkin (ähnlich wie die Goethe-Philologie in Deutschland) in steriler
   Akkumulation unzusammenhängenden Detailwissens verloren hatte. Zum anderen schlossen
   die Formalisten mit ihren apodiktisch vorgetragenen Geltungsansprüchen an futuristische
   Traditionen an, zu denen auch das Auftreten als „Bürgerschreck“ gehörte. Nicht zuletzt
   wirft das apodiktische Auftreten der formalistischen Literaturforscher ein bezeichnendes
   Licht auf eine kulturelle Situation, die prononciertes Gebaren zu erfordern schien:
   Um sich in den stürmischen Jahren zwischen 1915 und 1920 Gehör zu verschaffen, musste
   laut gesprochen werden.
Eine Korrektur der einseitigen Konzentration auf die literarische Form setzte mit
   dem Wachstum der Bewegung seit Beginn der 1920er Jahre ein. Schon 1924 ersetzte Jurij
   Nikolajevič Tynjanow die statische Bestimmung des literarischen Werkes als Summe aller
   in ihm realisierten Mittel durch seine Modellierung als ästhetisches „System“, in
   dem jedes Verfahren eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat. „Die Einheit eines literarischen
   Werkes liegt nicht in einem streng symmetrischen Ganzen, sondern in dynamischer Integration
   [...] Die Form eines literarischen Kunstwerks muss als dynamisch bezeichnet werden.“
   [68] Wurde so die Funktion der künstlerischen Mittel bzw. Verfahren in Abhängigkeit
   vom ästhetischen Gesamtzusammenhang eines Werkes beobachtet, konnte die historische
   Dimension nicht mehr vernachlässigt werden: Was zu einem bestimmten Zeitpunkt tragisch
   wirkte, konnte in einer anderen historischen Umgebung komische Effekte auslösen. Um
   also zwischen den verschiedenen Anwendungen eines „Verfahrens“ unterscheiden und deren
   Rolle innerhalb eines gegebenen ästhetischen Systems – ob Einzeltext, Gesamtwerk eines
   Autors oder literarische Bewegung – unterscheiden zu können, musste das literarische
   Faktum wieder in seinen geschichtlichen Bezügen beobachtet werden. Die Thematisierung
   der „literarischen Evolution“ schlug sich in zahlreichen Untersuchungen zu Autoren
   des „золотой век“, des „Goldenen Zeitalters“ der russischen Poesie nieder. Jurij Tynjanow
   schrieb über Достоевский и Гоголъ. К теории пароди (Dostoevskij und Gogol’. Zur Theorie
   der Parodie; 1921) und Архаисты и Пушкин (Archaisten und Puschkin; 1926), Boris Tomašewskij
   über Пушкин (Puschkin; 1925). Boris Ėjchenbaum verfasste die eindringlichen Studien
   Молодой Толстой (Der junge Tolstoj; 1922) und Лермонтов (Lermontov; 1924). Tomašewskij
   fixierte in der 1925 veröffentlichten Übersichtsdarstellung Теория Литературы erstmals
   auch den Terminus „Literaturtheorie“ als eigenständiges Arbeitsfeld einer wissenschaftlichen
   Beschäftigung mit poetischen  Texten.
Zugleich vollzogen sich innerhalb der formalistischen Bewegung interne Differenzierungsprozesse.
   Seit den Anfängen ihrer gegen die akademische Literaturwissenschaft gerichteten Forschungstätigkeit
   bestanden zwischen der Petersburger Gesellschaft für die Erforschung der poetischen
   Sprache (Opojaz) und dem Moskauer Linguisten-Kreis erhebliche Unterschiede, die vor
   allem die Beziehung zwischen Literatur- und Sprachwissenschaft betrafen. Waren die
   in Petersburg konzentrierten Literaturhistoriker an der Linguistik als einem Handwerkszeug
   für literaturtheoretische Problemstellungen interessiert, so erblickten die in Moskau
   tätigen Sprachwissenschaftler in der Dichtung einen Prüfstein für ihre Methodologien.
   Mit anderen Worten: Für Viktor Šklovskij und Boris Ėjchenbaum bildete die Sprachwissenschaft
   eine zentrale Hilfsdisziplin, während Roman Jakobson die Poetik als integralen Bestandteil
   der Linguistik behandelte. – Der wachsende Einfluss formalistischer Textumgangsformen
   unter jungen russischen Philologen und Literaturwissenschaftlern wurde unterbrochen,
   als sich nach 1925 die Literaturtheoretiker marxistischer Provenienz sammelten. Den
   Anfang der Kampagne machte Leo Trotzki, der in seinem 1924 in Moskau veröffentlichten
   Buch Литература и Революция (Literatur und Revolution) in einem ganzen Kapitel gegen
   die „formalistische Schule“ und ihren angeblich „reaktionären Charakter“ polemisierte.
   Den Hauptangriffspunkt bildeten dabei nicht die deskriptiven Verfahren, die sich laut
   Trotzki auf ein Zählen wiederkehrender Vokale und Konsonanten, Silben und Beiwörter
   beschränkten und in ihrer Funktion als Hilfsmittel der Forschung sogar Anerkennung
   fanden. Kernstück von Trotzkis Polemik war vielmehr eine massive Attacke gegen Viktor
   Šklovskij, der in Ход Коня (Lauf des Pferdes; 1923) eine soziologische Interpretation
   von Literatur ad absurdum zu führen versucht hatte. Auch wenn Trotzki – im Unterschied
   zu einer sich bereits formierenden Kunstdoktrin sowjetischer Prägung – die Eigengesetzlichkeit
   der literarischen Evolution akzeptierte und die Beurteilung eines Kunstwerks „nach
   seinem eigenen Gesetz, das heißt nach dem Gesetz der Kunst“ forderte, beharrte er
   auf dem Kompetenzanspruch des historischen Materialismus für ihre kausale Erklärung:
   „Nur der Marxismus kann erklären, warum und wie eine gegebene Richtung in der Kunst
   in der gegebenen geschichtlichen Periode entstanden ist.“
Trotz verschiedener Anstrengungen, einen gemeinsamen Nenner zwischen formalistischer
   und materialistischer Literaturforschung zu finden, geriet die auf Formen und Verfahren
   rekurrierende Beobachtung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in eine Krise, aus
   der sie sich nicht mehr erholen sollte. Ursache dafür waren nicht allein die kultur-
   und wissenschaftspolitischen Lenkungsansprüche des sowjetischen Staatsapparates, der
   ein mit dem Namen Stalins verbundenes Repressionssystem auszubilden und abweichende
   Meinungen mehr und mehr zu unterdrücken begann. Der allmähliche Zerfall des Formalismus
   ergab sich auch aus methodologischen Einseitigkeiten eines Forschungsprogramms, das
   es nicht geschafft hatte, überzeugende Antworten auf die Frage nach gesellschaftsgeschichtlichen
   Konditionen der literarischen Evolution zu finden. 1930 veröffentlichte die Литературная
   Газета Viktor Šklovskijs reumütigen Artikel Памятник научной ошибки (Denkmal eines
   wissenschaftlichen Irrtums), in dem der vormalige Wortführer des Petersburger Zirkels
   zugab, den auf literarischem Gebiet ausgetragenen „Klassenkampf“ ignoriert und den
   literarischen Prozess von den zugrunde liegenden sozialen Kräften getrennt zu haben.
   Der Formalismus sei nun „eine Sache der Vergangenheit“; übrig bleibe eine „heute allgemein
   anerkannte Terminologie sowie eine Reihe von technologischen Beobachtungen“. Mit dieser
   von orthodoxen Marxisten als Tarnungsmanöver heftig verurteilten Erklärung (der Šklovskij
   noch eine weitere, nun von Autoritäten wie Marx, Engels, Plechanow und Mehring beglaubigte
   Distanzierung folgen ließ) war der Formalismus als organisierte Bewegung innerhalb
   der russischen Literaturwissenschaft beendet. Seine Wirkungen aber sind nicht zu unterschätzen.
   Diese tangierten weniger die universitäre Literaturforschung in Deutschland, die den
   Formalismus frühzeitig kennen lernen konnte – schon 1925 erschien in der Zeitschrift
   für slavische Philologie der Forschungsbericht Formprobleme in der russischen Literaturwissenschaft
   von Victor Maksimovič Žirmunskij (1891-1971); 1928 reiste Oskar Walzel nach Leningrad
   und Moskau (und galt danach missverständlicher Weise als einer der Wegbereiter formalistischer
   Methoden). [69]
Die von den russischen Formalisten begonnene Exploration der Verfahren poetischer
   Texte fand vielmehr in Osteuropa und (nach kognitiven Wandlungsprozessen) in den USA
   ein Echo. Zentrale Instanz zur Vermittlung der auf Form und Funktion zentrierten Beobachtungsverfahren
   wurde Roman Jakobson, der seit 1920 in Prag lebte und die tschechischen Philologen
   mit dem russischen Formalismus vertraut machte. In dem sich 1926 formierenden Prager
   Linguistik-Kreis gab Jakobson die von ihm mit geprägten Konzepte an junge tschechische
   Linguisten sowie an den linguistisch orientierten Ästhetiker Jan Mukařowsky, den Slawisten
   N. S. Trubetzkoy und den Anglisten René Wellek weiter. Aus dieser Verbindung von Sprach-
   und Literaturwissenschaftlern ging – nicht zuletzt unter dem wachsenden Einfluss der
   von Ferdinand de Saussure im Cours de linguistique générale 1916 begründeten Semiotik
   – eine fruchtbar erweiterte Behandlung von Texten hervor: Indem die Sprache nun als
   zentrales (wenn auch nicht als einzig mögliches) Zeichensystem aufgefasst wurde, konnte
   der literarische Text als Relation von Zeichen und Bedeutung beschrieben sowie regelgeleitet
   analysiert werden. Das beschränkende Diktum des Moskauer Linguisten-Kreises, Dichtung
   sei Sprache in ihrer „ästhetischen Funktion“ und durch Ermittlung ihrer „Verfahren“
   zu erfassen, wich der Auffassung, die poetische Sprache sei (wie andere Zeichensysteme
   auch) ein zusammenhängendes Ganzes, in dem alle Teile aufeinander einwirkten und im
   relationalen Verhältnis von Elementen eine „Struktur“ ausbildeten. Mit diesem Perspektivwechsel
   wandelte sich der „Formalismus“ zu einem „Strukturalismus“, der weit mehr war als
   nur eine spezifische Textumgangsform. Schon die zeitgenössischen Akteure erkannten
   in ihm eine „allgemeine Denktendenz“ (Ernst Cassierer) bzw. ein „noetisches Prinzip“
   (Jan Mukařowsky), das sich sowohl in geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Literaturwissenschaft,
   Kunstgeschichte und Linguistik als auch in Psychologie und Biologie durchsetzen konnte.
Zentralen Einfluss und Wirkungsmacht in den Literatur- und Kulturwissenschaften gewann
   der Strukturalismus nach einer erneuten transnationalen Wanderungsbewegung. Nachdem
   der Anglist und Komparatist René Wellek – er hatte in Prag dem um Roman Jakobson versammelten
   Linguisten-Kreis angehört und war durch seinen Bruder Albert Wellek bestens über die
   aktuellen Entwicklung in Psychologie und Soziologie informiert – 1939 als Dozent für
   englische Literatur an die University of Iowa gekommen war, verfasste er gemeinsam
   mit dem hier lehrenden Warren Austin die Übersichtsdarstellung Theory of Literature
   (New York 1949), die in den 1950er und 1960er Jahren zu einem international rezipierten
   Lehrwerk avancieren sollte. Das in 25 Sprachen übersetzte Werk verdankt seine Bedeutung
   dem Vermögen, ideelle Gehalt und emotionale Wirkung zum Gegenstand der Analyse zu
   machen sowie einer kompromisslosen Abweisung aller interpretierenden Fremdbestimmungen
   des literarischen Kunstwerks, namentlich durch soziologische und psychologische Vorurteile.
   Bis dieses Werk und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien in der deutschen Literaturforschung
   wahrgenommen wurden, sollte allerdings geraume Zeit vergehen. Denn in Deutschland
   hatten sich mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten die politischen Rahmenbedingungen
   der Wissensproduktion geändert und auch Veränderungen in der institutionalisierten
   Literaturwissenschaft hervorgerufen. Diesen ist nun nachzugehen.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   Beobachtung und Beschreibung. Formalismus und Strukturalismus
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |
      
   
   
      |