Monoparadigmatischer Rahmen, heterogene Züge. DDR und Osteuropa

Institutionelle und personale Bedingungen
Konzepte und Methoden
Als im Herbst 1945 die Universität Jena und in den darauf folgenden Monaten die insgesamt sechs Universitäten der Sowjetischen Besatzungszone wiedereröffnet wurden, wahrte die universitäre deutsche Literaturwissenschaft zumindest auf institutioneller Ebene Kontinuität: Wie zuvor (und wie in den westlichen Besatzungszonen) gliederte sich die Disziplin in die Abteilungen für ältere Sprache und Literatur bzw. neuere Literatur; jeder Abteilung waren entsprechende Ordinariate, Extraordinariate sowie Planstellen für Dozenten und Assistenten zugeordnet. Ein provisorischer Lehrplan sah eine paritätische Ausbildung in beiden Fächern vor (Boden 1997, 120). Die bisherige Einrichtung des Wissenschafts- und Hochschulsystems schien fortzubestehen – nur das Personal dafür fehlte. Während in Leipzig mit Theodor Frings und Hermann August Korff zwei renommierte Gelehrte zur Verfügung standen, die dem Alter nach zwar bereits zu emeritieren waren, jedoch weiter lehren wollten und als politisch nicht belastet galten, sah es an den anderen Hochschulen düster aus: In Berlin waren alle vier Lehrstühle vakant, nachdem Franz Koch, Hans Kuhn und Hans Pyritz wegen Parteimitgliedschaft entlassen wurden und der Altgermanist Julius Schwietering sich nicht zurückgemeldet hatte. (Bis auf Koch konnten die Angehörigen der „Berliner Schule“ ihre Karrieren fortsetzen: Hans Kuhn wirkte von 1946 bis 1978 als Professor für Altgermanische und nordische Philologie in Kiel; Hans Pyritz war von 1947 bis zum Tod 1958 Professor für Deutsche Philologie an der Universität Hamburg. Schwietering sollte von 1946 bis zur Emeritierung 1952 als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der Universität Frankfurt/M. lehren.) In Jena war die neuere Abteilung unbesetzt, da sich der bisherige Stelleninhaber Arthur Witte vor dem Einmarsch der sowjetischen Truppen das Leben genommen hatte; der Ordinarius der älteren Abteilung Carl Wesle galt wegen eines zweifachen Aufnahmeantrags in die NSDAP als politisch belastet. In Halle behielt der politisch unbelastete Ferdinand Josef Schneider seinen seit 1921 besetzten Lehrstuhl (hatte allerdings wie die seit 1925 amtierenden Leipziger Professoren Korff und Frings die Altersgrenze erreicht); der Altgermanist Georg Baesecke hingegen war 1933 in die NSDAP eingetreten und sollte deshalb nicht weiter lehren. In Rostock war die neuere Abteilung unbesetzt, nachdem Willi Flemming durch Wechsel in den Westen seiner Entlassung zuvorkam; in Greifswald galten beide Ordinarien (Leopold Magon und Hans Friedrich Rosenfeld) als belastet.
Diese komplizierte Personalsituation bildet einen Ausgangspunkt für die Entwicklung der professionalisierten Literaturforschung in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik. Zwar strebten Besatzungsmacht und politische Instanzen der DDR nach einer Umgestaltung des Bildungs- und Wissenschaftssystems auf der Basis weltanschaulicher Vorgaben – der Mangel an dafür geeigneten Akteuren aber führte dazu, dass sich dieser Prozess nur langsam und widerspruchsvoll vollzog. Literaturwissenschaftler, die beim geplanten Neuaufbau der universitären Wissenskulturen hätten mitwirken können, standen anfangs nur in sehr begrenztem Maße zur Verfügung; Träger sozialistischer oder gar kommunistischer Überzeugungen hatte es schon in der Weimarer Republik kaum mehr gegeben (Jessen 1999, 32; Saadhoff 2006, 29-32). Zwar fanden Emigranten mit marxistischer Einstellung wie Alfred Kantorowicz, Hans Mayer, Gerhard Scholz oder aktive Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime wie der Romanist Werner Krauss (der wegen Mitarbeit in der Harnack-Schulze-Boysen-Gruppe zum Tode verurteilt worden war) den Weg in die Universitäten der SBZ/DDR. Doch erst mit dem Auftreten einer neuen Generation von Wissenschaftsakteuren zu Beginn der 1960er Jahre wurde eine auf der Basis des Marxismus-Leninismus stehende Literaturforschung dauerhaft durchgesetzt. Damit sind zugleich Rahmenbedingungen benannt, die die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur in der SBZ/DDR sowie in Osteuropa konditionierten und von der Literaturforschung in der Bundesrepublik Deutschland bzw. in Westeuropa und Nordamerika unterschieden: Politische Lenkungsansprüche griffen in den autoritär regierten Staaten weitaus stärker und direkter in Wissenschaftsprozesse ein als in den demokratischen Systemen des Westens; ideologisch motivierte Versuche zur monoparadigmatischen Ausrichtung des Wissenschaftssystems gehörten zum Selbstverständnis des Staatssozialismus und waren nicht nur partiell erfolgreich. Dennoch war die professionalisierte Literaturforschung in der DDR und in Osteuropa keine willfährige „Magd der Politik“ oder gar eine „blinde Wissenschaft“ (so Lehmann 1995), die bruchlos die von staatlichen und parteilichen Instanzen kommunizierten Erwartungen umsetzte. Obwohl die Instanzen der Kultur- und Wissenschaftspolitik nicht als unsichtbare Größen agierten, sondern mit einer Mixtur aus offensichtlicher Einflussnahme und nur zum Teil versteckter Repression die Akteure des Wissenschaftssystems an die Prämissen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung zu binden suchten, ließ sich die Literaturwissenschaft nicht auf eine Zulieferinstanz der Ideologie-Produktion oder bestätigende Institution parteipolitischer Beschlüsse reduzieren. Zwischen Wissenschaft und Politik in der DDR (wie in anderen autoritären Staaten Osteuropas) formierte sich vielmehr ein „vielfach vermitteltes symbiotisches Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung“ (Kocka 1998, 439), bei dem es neben ideologisch induzierten Homogenisierungen auch zu heterogenen Entwicklungen innerhalb einer monoparadigmatischen Forschungslandschaft kommen konnte (Danneberg/ Schernus/ Schönert 1995; präzisierend Funke 2004; Rosenberg 1997; Rosenberg 2000; Saadhoff 2006). Diese Vorgänge konnten länder- und zeitspezifisch variieren: Während in der Sowjetunion nach Stalins Verlautbarung zu Fragen der Sprachwissenschaft partielle Modifikationen der dogmatisierten Vorstellungen vom Basis-Überbau-Verhältnis möglich wurden, die nach dem XX. Parteitag der KPdSU und insbesondere seit Beginn der 1960er Jahre zu einer intensiven (und auch in Westeuropa wahrgenommenen) Bearbeitung text- und kultursemiotischer Fragestellungen führten, setzten vergleichbare theoretische Interessen in der DDR später ein: Erst 1967 wurde dem Vorschlag für eine Arbeitsstelle für Literaturtheorie an der Akademie der Wissenschaften in Berlin (Ost) zugestimmt, deren Konzeption von Werner Mittenzwei, Manfred Naumann und Robert Weimann ausgearbeitet worden war und deren Leitung der vom Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED kommende W. Mittenzwei übernahm. Ein wegweisendes Ergebnis des aus dieser Arbeitsstelle und anderen Akademie-Instituten 1969 hervorgegangenen Zentralinstituts für Literaturgeschichte wurde der von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Manfred Naumann erarbeitete Band Gesellschaft. Literatur. Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht (1973), der mit der bis dahin dominierenden Widerspiegelungskonzeption brach und in seiner Orientierung auf kommunikativ-funktionale Prozesse der bundesdeutschen Rezeptionsästhetik respondierte.

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Monoparadigmatischer Rahmen, heterogene Züge. DDR und Osteuropa
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