Konzepte und Methoden
Die kognitive Entwicklung der Literaturwissenschaft in der SBZ/ DDR folgte kultur-
   und wissenschaftspolitischen Weichenstellungen, die von Instanzen innerhalb und außerhalb
   des Landes vorgenommen worden waren. Die sowjetische Besatzungsmacht beabsichtigte
   die Schaffung einer gesellschaftlichen Ordnung, die dem eigenen autoritären System
   entsprach; die Umgestaltung des Bildungs- und Wissenschaftssystems war eine dafür
   notwendige Bedingung. Die professionalisierte Literaturforschung sollte Vorgaben einer
   weltanschaulich begründeten, von sowjetischen bzw. in der Sowjetunion wirkenden Forschern
   in den 1930er und 1940er Jahren entwickelten marxistischen Literaturwissenschaft aufnehmen
   und umsetzen – was sich jedoch aus bereits skizzierten Gründen als schwieriges und
   nur langfristig zu bewältigendes Unterfangen erwies. Aufgrund des Fehlens entsprechender
   Akteure war man nach 1945 zur Duldung einer pluralen Wissenschaftslandschaft gezwungen;
   „bürgerliche“ Professoren wie Hermann August Korff oder Joachim Müller konnten weiterhin
   lehren und forschen. Der 1954 in den Ruhestand versetzte Korff unterrichtete als Emeritus
   bis 1957 weiter und verwendete in seinen Vorlesungen demonstrativ seine alten Manuskripte;
   Müller wurde 1971 als ordentlicher Professor für deutsche Literatur an der Universität
   Jena emeritiert. Auch ihre rege und z.T. länderübergreifende Publikationstätigkeit
   blieb ungebrochen: Der vierte Band von Korffs ideengeschichtlichem Panorama Geist
   der Goethezeit erschien 1953 in Leipzig und wurde mehrfach wieder aufgelegt; Joachim
   Müller verfasste für die Sammlung Metzler des Stuttgarter Verlages den Band über Franz
   Grillparzer, der erstmals 1963 veröffentlicht wurde. – Das Schaffen von Korff und
   Müller verdeutlicht ein charakteristisches Merkmal der Entwicklung der Literaturforschung
   in der DDR: Während in der Bundesrepublik die sog. werkimmanente Interpretation dominierte,
   bestanden in der DDR spezifische Traditionen der geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung
   weiter fort, die von nationalistischen Verengungen befreit oder vom deutschen Geist
   auf das humanistische Erbe umgepolt wurden (Rosenberg 2000, 155).
Zugleich begannen unmittelbar nach 1945 Versuche, die Literaturforschung einem marxistischen
   Leitdiskurs unterzuordnen. Unter Rekurs auf die zu „Klassikern“ erklärten Gesellschaftstheoretiker
   Marx und Engels – deren verstreute Äußerungen zu Literatur und Kunst erstmals in den
   1930er Jahren zusammengestellt und systematisch dargestellt wurden – hatten schon
   die Publizisten Franz Mehring (1846-1919) und Georgij Plechanow (1856-1918) literaturgeschichtliche
   Zusammenhänge materialistisch erklärt: Poetische Texte galten als Phänomene gesellschaftlichen
   Bewusstseins bzw. als Erzeugnisse eines ideellen „Überbaus“, die von ökonomischen
   Verhältnissen der Gesellschaft – der „Basis“ – mehr oder weniger direkt bestimmt wurden.
   Eine so fundierte Literaturauffassung führte die komplexen Vorgänge der literarischen
   Kommunikation in monokausaler Weise auf Basis-Überbau-Verhältnisse zurück: In Texten
   und Kontextdokumenten suchte man nach sozialen und politischen Positionierungen, die
   homogenisiert sowie in Relation zur Klassenzugehörigkeit des Autors bzw. zum Klassenkampf
   als dem zentralen Moment der gesellschaftlichen Entwicklung gebracht wurden. Gegen
   diese einseitige Betonung soziologischer Äquivalenzen formulierten die Schriften des
   aus Ungarn stammenden und seit 1929 in Moskau lebenden Philosophen und Kulturtheoretikers
   Georg Lukács eine Alternative, die für die weitere Ausgestaltung einer marxistischen
   Literaturwissenschaft zentrale Bedeutung gewinnen sollte: Literatur gründete hier
   auf Widerspiegelung im Sinn einer „Abbildfunktion“, die zwischen Werk und Wirklichkeit
   eine kognitive und mimetische Beziehung stifte. Aufgabe der Kunst war nach Lukács
   „die treue und wahre Darstellung des Ganzen der Wirklichkeit“; Mittel dafür sei der
   realistische „Typus“, der Allgemeines und Konkretes, überzeitlich Gültiges und geschichtlich
   Bestimmtes vermittle. [120] Dieses an Hegels Ästhetik geschulte Konzept von Literatur,
   das einen bürgerlich-humanistischen Kanon als Kritik an der Deformation des Menschen
   in der vorsozialistischen Ära zu integrieren vermochte, moderne Formen wie Montage
   oder Dokumentarliteratur aber ablehnte, wurde zur Grundlage einer sich neu ausrichtenden
   Literaturwissenschaft. Schon 1947 erschien im Berliner Aufbau-Verlag Lukács’ Band
   Fortschritt und Reaktion in der Literatur, dem in rascher Folge zahlreiche weitere
   Arbeiten, vor allem zur Ästhetik wie zum Problem des literarischen Realismus folgten.
   Seine Abhandlung Marx und Engels als Literaturhistoriker (1948) deutete deren Aussagen
   als ein konsistentes System; darauf gestützt erfolgte die Bestimmung von „Parteilichkeit“
   als Stellungnahme des Künstlers zur historischen Entwicklung. – Die neue Literaturwissenschaft
   der DDR sollte sich auf diese Positionen berufen: Anfangs direkt, nach Niederschlagung
   des ungarischen Aufstands 1956 eher stillschweigend an Lukács anschließend, wurden
   bürgerliche und proletarische Literatur hinsichtlich ihrer korrekten Widerspiegelung
   der historischen Prozesse und ihrer Parteinahme für die fortschrittlichen Kräfte analysiert.
   Der Erfolg des Widerspiegelungsparadigmas resultierte einerseits aus der öffentlichen
   Präsenz von Lukács’ Werk, das sich in besonderer Weise auf die Geschichte der deutschen
   Philosophie und Literatur konzentriert hatte und als erste marxistische Deutung der
   literarischen Evolution mit wissenschaftlichem Anspruch aufgetreten war. Er erklärt
   sich andererseits aus der Suggestion einer Alternative zur „bürgerlichen“ Wissenschaft,
   die bei klarer Abgrenzung doch durchaus vertraute Strukturen wahrte: Lukács’ erkenntnistheoretisch
   fundiertes Programm offerierte ein Gegenangebot, ohne strukturelle Muster der Geistesgeschichte
   zu verwerfen; es blieb „eine materialistische Ästhetik aus dem Geist des deutschen
   Idealismus“ (Rosenberg 1997, 220).
Der konzeptionelle und methodologische Neuaufbau der Literaturforschung verlief gleichwohl
   nicht bruchlos und eindeutig reguliert. Neben der Doktrin von Georg Lukács – der 1949/50
   von orthodox marxistischer Seite wegen seiner Realismustheorie und ungenügender Akzeptanz
   der sozialistisch-realistischen Gegenwartsliteratur angegriffen wurde – existierten
   auch innerhalb des materialistischen Paradigmas divergierende Gegenpositionen, die
   Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Hanns Eissler oder Lu Märtens teilweise bereits in den
   1930er Jahren artikuliert hatten (Mittenzwei 1975). Eine Erneuerung der Literaturgeschichtsschreibung
   aus dem Geist des Marxismus versuchten auch der bedeutende Romanist Werner Krauss
   (1900-1976), der seine Grundsätze im programmatischen Aufsatz Literaturgeschichte
   als geschichtlicher Auftrag entwickelte (er erschien 1950 in der Zeitschrift Sinn
   und Form), sowie der germanistische Außenseiter Hans Mayer (1907-2001), der nach einer
   juristischen Promotion 1933 emigriert war und seit 1948 als Professor für Kultursoziologie,
   Geschichte der Nationalliteraturen und Deutsche Literaturgeschichte an der Universität
   Leipzig lehrte. Schon sein Buch Georg Büchner und seine Zeit – das während des Exils
   in Genf entstanden war und durch die Philosophische Fakultät der Leipziger Universität
   als der Habilitation gleichwertige Leistung anerkannt wurde – dokumentiert eine neuartige
   Aufmerksamkeit: Nicht geistesgeschichtliche Konstruktionen oder textimmanente Analysen
   stehen im Zentrum, sondern eine (von Georg Gottfried Gervinus beeinflusste) Thematisierung
   von Literatur als Beitrag zu politischer Emanzipation. Mayers kultursoziologischer
   Ansatz wirkte beispielhaft und verband sich mit einem regen Interesse für die Gegenwartsliteratur,
   die ihn zu einem Knotenpunkt der Kommunikation zwischen Ost und West werden ließ:
   Zu einem von ihm im März 1960 veranstalteten Lyrik-Symposium kamen u.a. Ingeborg Bachmann,
   Hans Magnus Enzensberger, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Inge und Walter Jens nach
   Leipzig; er selbst reiste zu Tagungen der Gruppe 47 nach Westdeutschland und stellte
   vielfältige Kontakte zwischen Autoren her. Im Juli 1962 organisierte Mayer schließlich
   eine wissenschaftliche Konferenz „Zu Fragen der Romantikforschung“, die mit den teilnehmenden
   Edith Braemer, Leopold Magon. Joachim Müller, Andreas B. Wachsmuth, dem Musikwissenschaftler
   Heinrich Besseler, dem Kunsthistoriker Johannes Jahn, dem Romanisten Werner Krauss
   und dem Historiker Walter Markov interdisziplinär besetzt war und die (namentlich
   von Georg Lukács und dessen Adepten behaupteten) Urteile über diese „reaktionäre“
   Linie in der deutschen Literatur zu revidieren begann. – Eine Ausweitung des von Lukács
   normativ eingeschränkten Literaturbegriffs probte schließlich auch der Barockforscher
   Joachim Boeckh, der seit Januar 1956 als Leiter der „Arbeitsstelle für Literaturgeschichte“
   am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Akademie der Wissenschaften in
   Berlin wirkte. Um eine tragfähige Theorie der Literatur und ihrer Geschichte zu schaffen,
   sei die Herausbildung dieses Gegenstands als „gesellschaftliches Geschehen“ zu erfassen,
   an dem alle Formen des Literarischen ebenso beteiligt wären wie „Lesererwartung, Verlags-
   und Buchhandelswesen, Mode und Rezensionswesen“ und in dessen Verlauf sich jeweils
   historisch neu entscheide, was als „schöne Literatur“ gegenüber trivialer oder Gebrauchsliteratur
   gelte. [121]
Bis es in der Sowjetunion seit Anfang der 1960er Jahre und in der DDR seit Beginn
   der 1970er Jahre zu veränderten Orientierungen innerhalb des materialistischen Paradigmas
   kam, blieben ihre zentralen und im wesentlichen durch Georg Lukács geprägten Parameter
   – die Ableitung geistig-kultureller Prozesse aus der Reproduktion der materiellen
   Lebensgrundlage, ein ethisch gebundenes Widerspiegelungskonzept und eine teleologische
   Geschichtsauffassung – dominierend. Wie sehr diese Auffassungen die Literaturforschung
   in der DDR selbst nach den rezeptionsästhetischen Innovationen weiterhin bestimmen
   sollten, zeigt nicht zuletzt die elfbändige Geschichte der deutschen Literatur von
   den Anfängen bis zur Gegenwart, die als umfänglichste Gemeinschaftsproduktion der
   DDR-Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre projektiert und Ende
   der 1970er Jahre abgeschlossen wurde: In der narrativen Struktur einer Fortschritts-
   und Entwicklungsgeschichte erzählt, gerannen die vielfältigen Erscheinungen des Literarischen
   zum Reflex eines zielgerichteten gesellschaftlichen Gesamtprozesses, zum ästhetischen
   Abbild der gesetzmäßigen Entwicklungsrichtung der menschlichen Gesellschaft.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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