Endpunkte und Neuanfänge. Das Jahr 1966

Der Schweizer Mediävist Max Wehrli (1909-1998) meinte 1970 den grundlegenden Wandel in Auftreten, Kanon und Methode der deutschen Literaturwissenschaft „fast auf den Tag genau“ bezeichnen zu können: Es sei das Datum von Emil Staigers Rede Literatur und Öffentlichkeit anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Stadt Zürich, die den sogenannten Zürcher Literaturstreit auslöste (Wehrli 1970, 20; so auch Voßkamp 1990, 243, Dainat 1993, 208). Auch wenn die Verknüpfung historisch langfristiger Veränderungen mit dem 17. Dezember 1966 nicht unproblematisch ist, benennt die Aussage des beteiligten Beobachters doch durchaus zutreffend einen Zeitpunkt, der gemeinsam mit anderen Ereignissen dieses und des folgenden Jahres eine nachhaltige Umgestaltung der institutionalisierten Literaturforschung markiert. Denn Staigers Ausfälle gegen moderne Themen und Schreibweisen offenbarten nicht nur die Grenzen eines normativen und am klassischen Kanon gebildeten Literaturbegriffs; sie demonstrierten auch die methodischen Defizite eines Interpretationsverfahrens, das mit einem an ästhetisch maximierten Gipfelwerke ausgebildeten Instrumentarium die Prinzipien poetischer Devianz nicht erfassen konnte. Walter Höllerers Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter, die zwischen April und Juni 1967 die zum Teil heftig erregten Wortmeldungen abdruckte, dokumentierte also eine Diskussion, die sich um mehr bewegte als um die Bewertung zeitgenössischer Literatur: Wie schon in der durch den Komparatisten Horst Rüdiger im Januar 1964 entfesselten Debatte, die sich an Rolf Hochhuths 1963 uraufgeführtem Drama Der Stellvertreter entzündet hatte, ging es um theoretische sowie um ethische Grundlagen der Beschäftigung mit literarischen Texten, die sich in ihrer Neuartigkeit bisherigen Regeln der Bedeutung entzogen. Die in Hochhuths Stück thematisierte NS-Zeit rief zudem die in den textinterpretierenden Disziplinen bislang erfolgreich verdrängte Vergangenheit wieder ins Gedächtnis – es war also kein Zufall, dass nun verstärkt nach deren Rolle in den Jahren der Diktatur gefragt wurde. Die 1964 zaghaft und zögerlich begonnene Diskussion über die Rolle der Germanistik in der NS-Zeit machte der Münchener Germanistentag 1966 medienwirksam öffentlich: Nachdem sich 1965 der Literaturwissenschaftler Gerhard Fricke in einer Rede vor Kölner Studenten um eine Erklärung seiner schuldhaften Beteiligung in der NS-Zeit bemüht und die Wochenzeitung Die Zeit vor allem jungen Professoren eine Plattform für Fragen an ältere Kollegen geboten hatte, probten die reformorientierten Kräfte nun den Aufstand: Sie rechneten mit der „deutschen Wissenschaft“ ab und gewannen in der ideologiekritischen Auseinandersetzung sowohl kognitives als auch institutionelles Terrain.
Zugleich fanden in Ost und West institutionelle und kognitive Neuerungen statt, die einen seit längerem beobachtbaren Modernisierungsprozess verdichteten. In der DDR erfolgte 1966 die Umwandlung des bisherigen „Staatssekretariats für Hochschulwesen“ in ein Ministerium und zwei Jahre später die Anpassung der Universitäten an das (bereits 1963 beschlossene) einheitliche Bildungssystem; die Ersetzung der traditionellen Fakultäten durch die neue Struktureinheit „Sektion“ führte zu Varianten der Differenzierung und Integration, von denen auch die bislang nationalphilologisch gegliederte Literaturwissenschaft betroffen war (vgl. den Beitrag von Dorit Müller in diesem Band). Auch in der Bundesrepublik Deutschland experimentierte man mit einer lernzielbezogenen und literaturtheoretischen Neuformierung der philologischen Disziplinen. Die an der Universitätsneugründung Konstanz wirkenden Reformatoren um den Anglisten Wolfgang Iser und den Romanisten Hans Robert Jauß versuchten die nationalsprachliche Departementalisierung aufzuheben; ihr Projekt war eine „Wissenschaft von Texten und nicht von Nationen“ [122]. Horst Rüdiger begründete 1966 mit dem Periodikum arcadia die Zeitschrift für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (und sollte 1970 maßgeblich an der Bildung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft beteiligt sein). Als Hans Robert Jauß 1967 seine Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation hielt, wandte er sich gegen die überkommene Produktions- und Darstellungsästhetik der herkömmlichen Literaturwissenschaft und entwarf ein Rezeptionsmodell, das den Dialog zwischen Werk und Leser berücksichtigte: Eine fixierte zeitlose Bedeutung des literarischen Kunstwerks gibt es nicht; es existierten vielmehr historische Konkretisationen, die im Dialog zwischen einer in der Vergangenheit verwurzelten Erscheinung der Dichtung mit der gegenwärtigen Erfahrung des aktuellen Lesers vorgenommen werden. – Die hier formulierten Eckpunkte einer neuen, rezeptionsästhetisch formierten Literaturforschung lassen sich als Antwort auf den Forderungskatalog verstehen, den Werner Mittenzwei auf der konstituierenden Sitzung der Sektion Literaturwissenschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin (Ost) vortrug. In seiner Rede vom September 1967 benannte er wesentliche Desiderata einer marxistischen Literaturwissenschaft: die unzureichende Bestimmung des Ästhetischen bei der sozialen Analyse von Literatur, die passive Bestimmung des Widerspiegelungskonzepts, die fehlende Wahrnehmung einer durch Medien veränderten Kulturlandschaft (Boden 1997, 265). Sie sollten in den rezeptionstheoretisch angeleiteten Explorationen des 1969 gegründeten Zentralinstituts für Literaturgeschichte und insbesondere im 1973 veröffentlichten Sammelwerk Gesellschaft, Literatur, Lesen ihre weitreichende Bearbeitung finden.
Doch blieben die für die nachfolgende Literaturforschung bedeutsamen Initiativen und Neuanfänge der Jahre 1966f. nicht auf den deutschen Sprachraum beschränkt. In Frankreich wurde die Popularisierung formalistischer und strukturalistischer Konzeptionen fortgesetzt: Tzvetan Todorov veröffentlichte unter dem Titel Theorie de la littérature eine Anthologie von Texten russischer Formalisten; die Zeitschrift Aletheia brachte 1966 ein Heft „Le Structuralisme“ (mit Beiträgen von Claude Lévi-Strauss und Roland Barthes), Communications 1966 ein Heft zur „analyse structurale du récit“ (mit Beiträgen von Roland Barthes, Gerard Genette, Tzvetan Todorov und Algirdas Greimas); Les Temps Modernes fragte nach den „Problèmes de structuralisme“ und veröffentlichte mit den von Pierre Bourdieu kommenden Überlegungen zum Champ intellectuel et projet créateur einen – schon bald auch ins Deutsche übersetzten – Beitrag zur Soziologie des kulturellen Feldes. 1966 erschien Algirdas Julien Greimas’ Sémantique structurale; im gleichen Jahr wurde die „Archéologie des sciences humaines“ Les mots et les choses des Philosophen Michel Foucault (1926-1984) und der erste Band der Écrits von Jacques Lacan (1901-1981) veröffentlicht. Im Oktober 1966 veranstaltete die John Hopkins-Universität in Baltimore den Kongress „The Languages of Criticism and the Sciences of Man“, auf dem französische und US-amerikanische Literaturforscher und Kulturtheoretiker strukturalistische Konzepte und Verfahren diskutierten und dabei den Übergang zum später sogenannten Poststrukturalismus einleiteten: Neben Roland Barthes, Lucien Goldmann, Jean Hyppolite, Jacques Lacan, Paul de Man, Charles Morazé, Georges Poulet, Tzvetan Todorov u.a. nahm auch der noch junge Philosoph Jacques Derrida teil, dessen Grammatologie-Vorstudie im Dezember 1965 sowie im Januar 1966 in der Revue Critique erschienen war. Zum nicht intendierten Ergebnis dieses Kongresses wurde die Metamorphose strukturalistischer Konzepte auf gleichsam offener Bühne; personaler Gewinner war Derrida, der sich als kritisch fragender Pionier inszenierte und zum Star des Symposiums wie der nachfolgenden poststrukturalistischen Bewegung avancierte (Cusset 2003, 38-42). – Anfang 1967 erschien schließlich ein Juri Lotman und der Moskau-Tartu-Schule gewidmetes Themenheft der sowjetischen Zeitschrift Voprosy Literatury. Hier erfolgte die Diskussion von Ansätzen, die seit Beginn der 1960er Jahre und insbesondere nach der Berufung Lotmans in estnische Tartu verfolgt wurden und eine fruchtbare Semiotik der Kultur initiierten.
Mit diesen Weichenstellungen hatte die professionalisierte Beschäftigung mit Literatur zu jenen spezifischen Konditionen gefunden, die ihren Umgang mit Texten und Kontexten in den nächsten Jahrzehnten bestimmen sollten: Gegen eine emphatische Feier vermeintlich überzeitlicher Werte (wie von noch Emil Staiger repräsentiert) mobilisierte man nun szientistische Ernüchterung; gegen politische Instrumentalisierung setzte man ideologiekritische Reflexionen. Rezeptionsästhetische Modellierungen veränderten den Werkbegriff nachhaltig; strukturalistische Verfahren und ihre kritische Diskussion exponierten die Literaturtheorie zu einem vielfach umkämpften Feld, auf dem Grundlagen und Methoden der kulturellen Bedeutungsproduktion verhandelt werden sollten. Interne Differenzierungen und institutionelle Entkopplungen, die Ende der 1960er Jahre zur endgültigen Trennung von Literatur- und Sprachwissenschaft führten, waren nicht mehr aufzuhalten.

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Endpunkte und Neuanfänge. Das Jahr 1966
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