„Geist“ und „Verfahren“. Synthesen und Formbeobachtungen, 1900–1933

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die textinterpretierenden Disziplinen im Rahmen der modernen Forschungsuniversität institutionell konsolidiert. Auch den mit Sprache und Literatur befassten Wissenskulturen war eine beachtliche Professionalisierung gelungen. Dem Vorbild der Klassischen Philologie folgend, formierten sich Germanistik, Romanistik und Anglistik als nationalsprachlich gegliederte Fächer, die sich mit „exakter“ Text- und Quellenkritik sowie tendenziell selektionsloser Aufmerksamkeit im Zeichen einer vielbeschworenen „Andacht zum Unbedeutenden“ von anderen Textumgangsformen (etwa der sich weiter differenzierenden literatur- und sprachkritischen Publizistik) unterschieden. Dem durch Philologisierung realisierten Statusgewinn korrespondierten institutionelle Erweiterungen. Verfügten schon in den 1860er Jahren alle deutschen Universitäten (abgesehen vom Sonderfall Greifswald) über ein Ordinariat für deutsche Sprache und Literatur, markierte die Gründung der letzten germanistischen Seminare (1892 in München, 1895 in Münster) eine weitere Angleichung an die bislang dominierende Altphilologie. Im Jahr 1890 gab es 62 und 1910 bereits 87 germanistische Hochschullehrer; die Zahl der Ordinariate erhöhte sich von 24 im Jahr 1890 auf 33 im Jahr 1910, davon 3 an Technischen Hochschulen (Ferber 1956, 206). Periodika und Schriftenreihen boten der fortgesetzten Spezialisierung historisch-kritischer Textumgangsformen eine publizistische Basis: Die 1868 durch Julius Zacher begründete Zeitschrift für deutsche Philologie, die 1874 durch Hermann Paul und Wilhelm Braune ins Leben gerufenen Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur sowie die von August Sauer 1894 begründete „Zeitschrift für Literaturgeschichte“ Euphorion bestehen noch heute. Die seit 1879 erscheinenden Jahresberichte über die Erscheinungen auf dem Gebiet der germanischen Philologie erfassten in Form einer räsonierenden Bibliographie die aktuelle wissenschaftliche Produktion. An der Preußischen Akademie der Wissenschaften nahm 1903 die „Deutsche Kommission“ ihre Tätigkeit auf. In zum Teil jahrzehntelanger Arbeit widmete man sich hier der Inventarisierung von literarischen Handschriften deutscher Sprache bis ins 16. Jahrhundert, der Edition von ungedruckten deutschen Werken des Mittelalters und der frühneuhochdeutschen Zeit sowie der Erstellung von Wörterbüchern (Dainat 2000). – Diese Ausweitung der universitären bzw. akademischen Literaturforschung kann als Resultat wie Katalysator einer seit Ende des 19. Jahrhunderts auch politisch propagierten „Nationalbildung“ mitsamt ihren schul- und wissenschaftspolitischen Konsequenzen verstanden werden: Nachdem Wilhelm II. auf der preußischen Schulkonferenz 1890 für eine Bildungspolitik plädiert hatte, die eine neuhumanistische Erziehung durch Nationalbildung ersetzte, verlor das altsprachlich orientierte Gymnasium in Preußen im Jahr 1900 (in Bayern erst 1908) das Monopol für die Erteilung der allgemeinen Hochschulzugangsberechtigung. Das Realgymnasium – das sich verstärkt den neueren Sprachen und Literaturen widmete – bot nun ebenso einen gleichberechtigten Weg zum Studium wie die Oberrealschule mit naturwissenschaftlich-mathematischem Schwerpunkt und die später wichtige Deutsche Oberschule mit ihrer Betonung „deutschkundlicher“ Fächer. Diese Reform wertete nicht nur die modernen Fremdsprachen und Naturwissenschaften („Realia“) auf; sie ließ auch den Deutschunterricht allmählich zum „Kernfach“ in der Schule aufsteigen und machte die Germanistik an Universitäten – die ihrerseits zum „Großbetrieb“ (Adolf von Harnack) auswuchsen – zu einem „Massenfach“ (Landfester 1988, Becker/ Kluchert 1993, Kopp 1994). Keine andere Disziplin an der Philosophischen Fakultät hatte so viele Studierende wie die deutsche Philologie (Tietze 1987, 122).
Disziplinäres Wachstum, externer Erfolg und vermehrte Leistungen für die gesellschaftliche Umwelt trieben interne Differenzierungsprozesse voran. Der seit den 1870er Jahren vollzogenen Trennung von Mediävistik und neuerer Literaturgeschichte folgte die spezialisierte Bearbeitung linguistischer Fragestellungen – was sichtbar wurde, als Kaiser Wilhelm II. beim Akademie-Jubiläum im Jahr 1900 der Philosophisch-historischen Klasse drei neue Stelle „vorzugsweise für deutsche Sprachforschung“ bewilligte. (Unter dem Dach der Akademie stellte man zwischen 1908 und 1960 das von den der Brüdern Grimm 1854 begonnene Deutsche Wörterbuch fertig; zugleich entstanden hier Mundarten-Lexika wie das Rheinische Wörterbuch, das in neun Bänden zwischen 1928 und 1971 erschien, das Hessen-Nassauische Wörterbuch und das Preußische Wörterbuch.) Schon 1896 war aufmerksamen Beobachtern klar, dass „durch das alte, weite Gebiet der Philologie ein philosophisch-ästhetischer und ein separatistischer Geist“ weht. [42] Diese Wahrnehmung bezog sich zum einen auf eine verstärkte Thematisierung neuerer Literatur unter den Vorzeichen ihrer philosophischen Deutung und ästhetischen Wertung; sie rekurrierte zum anderen auf Versuche zur Begründung einer theoretisch angeleiteten Behandlung der literarischen Überlieferung. In erklärter Abgrenzung von philologischen und literaturhistoriographischen Textumgangsformen hatten programmatische Schriften zwischen 1880 und 1900 jene neue Wissenskultur projektiert, die ihren Anspruch bereits im Namen führte: Die als „Literatur-Wissenschaft“ kenntlich gemachte Form der Beobachtung, Deutung und Erklärung von Texten sollte mit induktiven Verfahren ein Wissen produzieren, das sich mit den Gesetzesaussagen der (erfolgreichen) Naturwissenschaften vergleichen konnte. Analoge Entwicklungen fanden auch jenseits der deutschen Grenzen statt. In Frankreich projektierte Emile Hennequin 1888 eine Critique scientifique, die von Paul Lacombes Introduction à l’histoire littéraire (1898) und Georges Renards La méthode scientifique de l’histoire littéraire (1900) fortgesetzt wurde (Hoeges 1980, S. 95-142).
Bezeichnenderweise erfolgten die Versuche zur Begründung einer „Literatur-Wissenschaft“ unter Rückgriff auf Leistungsangebote einer Disziplin, die nach einer schweren Krise wieder neue Reputation gewonnen hatte – die Philosophie. Nach dem Zusammenbruch der großen idealistischen Systeme hatte sie ihre Zentralstellung innerhalb des Wissenschaftssystems verloren und war im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Fachwissenschaft unter anderen geworden. Dem Vorbild der philologisch-historischen Disziplinen folgend, wandte sie sich verstärkt der eigenen Geschichte und der Auslegung ihrer klassischen Texte zu, um über eine Kant-Renaissance seit den 1870er Jahren zu neu-idealistischen Positionen zurückzufinden (Köhnke 1986). Ihre wachsende Bedeutung verdankte sie jedoch der Spezialisierung auf eine anthropologisch fundierte Erkenntnistheorie, die Ergebnisse der Einzelwissenschaften aufnahm, um sie theoretisch zu modellieren und zu überbieten. Mit einer solchen Kompetenz konnte die Philosophie den anderen text- und zeicheninterpretierenden Fächern am Ende des Jahrhunderts zwei attraktive Angebote unterbreiten, die von der sich als Wissenschaft formierenden Literaturforschung in unterschiedlicher Weise genutzt wurden: Zum einen die Konzepte und Verfahren einer Psychologie, die sich in Kontakt mit Biologie, Physiologie und Völkerkunde auf experimenteller Basis entwickelte und durch erfolgreiche Institutsgründungen (namentlich durch Wilhelm Wundt und seine Schüler) eine eigenständige Disziplin zu werden begann. Die durch empirische Beobachtung und Introspektion gewonnenen Begriffe der Psychologie schienen geeignet, den Entstehungsprozess poetischer Werke adäquat beschreiben und erklären zu können. „Seitdem Hegel durch die rückkehr zu Kant und durch die hohe blüte der naturwissenschaften als überwunden galt und die philosophie in engste beziehungen zu physiologie und biologie trat, ist die psychologie zur königin der geisteswissenschaften emporgestiegen“, fasste Alfred Biese 1899 die Entwicklung zusammen, „sie beherrscht die moderne ästhetik, die moderne literaturbetrachtung. Damit sind denn auch die schlimmsten zeiten des specialismus vorüber.“ [43]
Als die Anläufe zu einer induktiven Poetik und die Versuche zur Formulierung von Gesetzen der literarischen Entwicklung nicht den erhofften Erfolg brachten, sollte ein anderes Angebot der Philosophie von Bedeutung werden. Die klassifikatorische Trennung von „erklärenden“ Natur- und „verstehenden“ Geistes- bzw. Kulturwissenschaften stattete die Wissensansprüche der Literaturforschung mit radikal veränderten Akzeptanz- und Plausibilitätsbedingungen aus und avancierte zum Distinktionskriterium einer Forschergeneration, die nach 1900 zur Besetzung universitärer Positionen rüstete. Im Anschluss an Überlegungen des Philosophen Wilhelm Dilthey (1833-1911) formulierte Rudolf Unger (1876-1942) in seiner 1908 veröffentlichten Programmschrift Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft einen gegen die „mechanistische bzw. atomistische Auffassungsweise“ des „literaturwissenschaftlichen Positivismus“ gerichteten Forschungsimperativ und forderte, literarische Texte als Zeugnisse der „Weltanschauungs- oder Ideengeschichte“ sowie als „Dichtungen“ zu behandeln: Da die neuere deutsche Literaturgeschichte „in weitem Umfange zugleich Geschichte dieser allgemeinen geistigen Strömungen und Kämpfe“ sei und ihre Manifestationen als „selbständige, in sich abgeschlossene künstlerische Gestaltungen“ in Erscheinung traten, müsse sich auch deren Erforschung „philosophischer, speziell psychologischer und ästhetischer Methoden und Maßstäbe sowie ethischer, religions- und geschichtsphilosophischer Ideen“ bedienen. [44] Die programmatisch verkündete Abkehr von einer beschränkten „philologistischen Bewegung“ sollte nur wenige Jahre später erste Früchte tragen: 1911 erschien Rudolf Ungers zweibändiges Werk Hamann und die Aufklärung, das schon in Titel und Nebentitel („Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert“) die Schwerpunkte des neuen wissenschaftlichen Interesses markierte. Im selben Jahr publizierte der im George-Kreis beheimatete Friedrich Gundolf (1880-1931) seine Habilitationsschrift Shakespeare und der deutsche Geist. 1912 wurde der erste Band der Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften von Josef Nadler (1884-1964) veröffentlicht; bereits 1910 war die zweibändige Habilitationsschrift Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner des erst siebenundzwanzigjährigen Fritz Strich (1882-1942) gedruckt worden. Diese Werke dokumentieren einen Modernisierungsprozess in der Literaturforschung, der im wissenschaftshistorischen Rückblick als „geistesgeschichtliche Wende“ apostrophiert wurde und dessen Dynamik sich gravierender auswirkte als die politischen Zäsuren von 1914, 1918, 1933 und wohl auch 1945: Auf Grundlage eines umfangreichen, philologisch erschlossenen Wissens und befruchtet durch Anregungen aus Philosophie, Psychologie und der Kulturgeschichtsschreibung entstanden nun „synthetische“ Übersichtsdarstellungen, die eine bislang dominierende mikrologische Quellen- und Textkritik zugunsten umfassender philosophisch-ästhetischer bzw. historischer Perspektivierungen verabschiedeten. Das nach 1910 in Erscheinung tretende Spektrum der geistesgeschichtlichen Literaturforschung bildete jedoch nicht nur den Ausgangspunkt eines sich rasch entfaltenden Pluralismus von methodischen Richtungen und Schulen, deren Heterogenität eine in den 1920er und 1930er Jahren vielstimmig konstatierte „Krisis“ des Faches hervorrufen sollten. Die literaturgeschichtlichen Arbeiten geistesgeschichtlicher Provenienz stießen auf breites öffentliches Interesse; die intensive Beteiligung ihrer Repräsentanten an der Theoriediskussion machte die Neuere deutsche Literaturwissenschaft zu einem markanten Experimentierfeld innerhalb der philologisch-historischen Disziplinen. Noch heute gehört die 1923 durch den Germanisten Paul Kluckhohn und den Philosophen Erich Rothacker begründete Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte zu den renommierten Fachorganen.

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„Geist“ und „Verfahren“. Synthesen und Formbeobachtungen, 1900–1933
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