Internationalisierung und Neuorientierung
Der Erfolg der unterschiedlichen, im Begriff der „textimmanenten Interpretation“ zusammengefassten
Bewegungen der universitären Literaturwissenschaft in den westlichen Besatzungszonen
und der späteren Bundesrepublik ergab sich nicht nur aus ihrer scheinbar sachlichen
Hinwendung zum ästhetisch maximierten „Werk“, das als ein relationales Gefüge aufgefasst
und mit intensivierter Aufmerksamkeit beobachtet wurde. Die Durchsetzungskraft dieser
Ansätze speiste sich auch aus analog ablaufenden Prozessen der Wissenschaftsentwicklung
im Ausland, die – nach nur eingeschränkter Wahrnehmung in der Zeit zwischen 1933 und
1945 – nun verstärkt rezipiert wurden. Aus dem angelsächsischen Sprachraum und im
Besonderen aus den USA drangen die Arbeiten von Philologen wie Cleanth Brooks (Modern
poetry and the tradition; 1939), Robert Penn Warren (Understanding poetry; 1938) oder
William K. Wimsatt jr. (Literary criticism; 1957, mit Cleanth Brooks). Gemeinsamen
Nenner und begriffliches Label dieser Ansätze markieren die 1941 erschienene Monographie
The New Criticism von John Crowe Ransom und die 1947 veröffentlichten Studies in the
structure of poetry von Cleanth Brooks: Der literarische Text gilt als gleichsam organische
Einheit bzw. „achieved unity“, [116] dessen Komplexität und Ambiguität allein durch
intensive genaue Lektüre („close reading“) zu erfassen und nicht durch Rekurs auf
biographische, psychologische oder sozialhistorische Faktoren zu erklären ist. In
dieser Maximierung ästhetischer Eigenschaften bei gleichzeitiger Abweisung vermeintlich
verstellender Kontexte traf sich das als „New Criticism“ benannte Forschungsprogramm
mit jener „explication de texte“, die als Reaktion auf historisch-biographische und
soziologische Kausalanalysen in der romanistischen Literaturwissenschaft der 1930er
und 1940er Jahre Geltung gewonnen hatte und in Leo Spitzers 1949 veröffentlichter
Programmschrift A method of interpreting literature ihre systematische Darstellung
fand. Eine wirkungsmächtige Synthese dieser Ansätze mit Programmen formalistisch-strukturalistischer
wie geisgesgeschichtlicher Herkunft demonstrierte die Übersichtsdarstellung Theory
of Literature, die René Wellek und Austin Warren 1949 vorlegten. Zentraler Anspruch
der seit 1939 an der Universität von Iowa lehrenden Forscher war, „in unserem wissenschaftlichen
Horizont international zu sein, die rechten Fragen zu stellen, ein Organon der Methode
vorzulegen“ – und dabei „weder eklektisch wie die deutschen, noch doktrinär wie die
russischen Werke“ aufzutreten. [117] Ohne Reflexion ihrer gravierenden Unterschiede
stellte das Vorwort zur zweiten Auflage denn auch die Monographien Gehalt und Gestalt
im dichterischen Kunstwerk von Oskar Walzel [1923], Teoria literatury von Boris Tomaschweskij
[1925] und Die Wissenschaft von der Dichtung von Julius Petersen [1939] als der eigenen
Position nahe stehende Partner nebeneinander; im späteren Rückblick stilisierte Wellek
das gemeinsame Werk als Diskussion der wichtigsten „Continental developments“. [118]
– Auch wenn die an der Universität von Chicago versammelten „New Aristoteleans“ um
Ronald S. Crane schon in den 1950er Jahren intervenierten, blieb die akademische Vorherrschaft
von neukritischen Textumgangsformen bis in die 1960er Jahre ungebrochen und Welleks/Austins
Buch ein einflussreiches Lehrwerk an amerikanischen wie westeuropäischen Universitäten.
Doch trotz scheinbarer Einrichtung in restaurierten Verhältnissen zeichneten sich
in der universitären und außeruniversitären Beschäftigung mit der literarisch-kulturellen
Überlieferung schon in den 1950er Jahren Veränderungen ab. Diese entsprangen zum einen
den zunehmend intensivierten Austauschprozessen zwischen den Wissenschaftsdisziplinen
und Wissenschaftskulturen im Rahmen nationenübergreifender Entwicklungen. (Hier nur
knapp zu erwähnen sind Verschiebungen im kulturellen Haushalt der westeuropäischen
Nachbarn und namentlich in Frankreich, die auch auf das intellektuelle Milieu der
Bundesrepublik ausstrahlten: Ein von Jean Paul Sartre geprägtes écrivain engagé, das
Begriffe wie Engagement, Wahl, Solidarität existenzialistisch aufgeladen hatte, fand
in Roland Barthes’ écriture courte eine wirkungsmächtige Modifikation. Dessen zunächst
in Zeitschriften veröffentlichte und 1957 als Buch publizierten Mythologies – in deutscher
Übersetzung 1964 u.d.T. Mythen des Alltags erschienen – bezogen den Strukturalismus
kulturkritisch auf die französische Gesellschaft und ihre Selbstdeutungen. Die zeichentheoretisch
begründeten Beobachtungen sozialer und kultureller Zusammenhänge erwiesen die Leistungsfähigkeit
strukturalistischer Verfahren, die zur Szientifizierung der Humanwissenschaften antraten
und sich mit entsprechender Fortschritts- und Modernisierungsemphase gegen historische
und hermeneutische Selbstbescheidung positionierten. Die Ausbildung einer solchen
Perspektive erfolgte freilich nicht voraussetzungslos: Seit der produktiven Begegnung
zwischen Roman Jakobson und Claude Lévi-Strauss in New York hatte der linguistisch
bzw. ästhetisch orientierte Strukturalismus eine ethnologische Erweiterung erfahren,
die ihrerseits auf Erzähltextanalyse und Literaturtheorie zurückwirkte.) Ausweitung
und Vernetzung der wissenschaftlichen Kommunikation führten schließlich zur Bildung
von ländergrenzenüberschreitenden Organisationen, die den Kontakt zwischen Literaturforschern
noch heute organisieren: 1955 wurde in Rom die Internationale Vereinigung für Germanische
Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG) gegründet, nachdem zuvor die Fédération Internationale
des Language et Littératures Modernes ihre Arbeit aufgenommen hatte.
Veränderungen innerhalb der textinterpretierenden Disziplinen resultierten zum anderen
aus dem – im deutschen Sprachraum besonders signifikanten – Nachrücken einer Generation,
deren Angehörige in den 1920er Jahren geboren waren und mit ihren Qualifikationsschriften
sowie nachfolgenden Projekten die bislang von älteren Jahrgängen beherrschten Fächer
verändern sollten. In der Philosophie und Soziologie waren es Jürgen Habermas (*1929),
Niklas Luhmann (*1927), Rainer Lepsius (*1928), Ralf Dahrendorf (*1929); in der Literaturwissenschaft
Eberhard Lämmert (*1924), Albrecht Schöne (*1925), Karl Otto Conrady (*1926), Peter
Szondi (*1929). Angehörige dieser Generation leiteten mit ihrem Interesse an der literarischen
Moderne endlich auch eine Auseinandersetzung mit irritierenden Umbrüchen im Kunst-
und Literatursystem ein: Dieter Wellershoff (*1925) promovierte 1952 über Gottfried
Benn, bevor er 1958 Herausgeber der ersten Benn-Gesamtausgabe wurde; Martin Walser
(*1927) schrieb seine Doktorarbeit über die epische Dichtung Franz Kafkas, um dann
als Reporter beim SDR zu arbeiten und (nach erstem Kontakt bei der Aufzeichnung einer
Tagung im Oktober 1951) zwei Jahre später als Beiträger zur Gruppe 47 eingeladen zu
werden.
Die von diesen Bedingungen beförderten Entwicklungen der Literaturforschung in der
Bundesrepublik Deutschland und in Westeuropa können an dieser Stelle nicht detailliert
nachgezeichnet werden. In starker Abstraktion lassen sich jedoch wesentliche Parameter
einen veränderten wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur in den 1950er Jahren knapp
benennen.
(a) Eine avancierte Forschung schloss an Traditionen der Literatursoziologie und der
Kritischen Theorie an, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik entstanden waren
und nach der Remigration von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verstärkt zu wirken
begannen. Von einer massiven medialen Präsenz insbesondere Adornos befördert, wuchs
in der akademischen wie in der breiten Öffentlichkeit das Interesse für soziale und
sozialhistorische Parameter der kulturellen Produktion. Aktuelle Entwicklungen avancierten
zum Gegenstand vorurteilsfreier Analyse: „Die Kulturindustrie gehört zu unserer Wirklichkeit,
statt an ihr gebildet zu nörgeln, sollte man ihre Gesetzmäßigkeiten erforschen“, forderte
Hans Magnus Enzensberger, der 1929 geborene Verfasser einer Dissertation über Clemens
Brentanos Poetik in der 1954 gegründeten Zeitschrift Akzente. [119] – Als eine personale
Schnittstelle für die Philologisierung kunstsoziologischer Fragestellungen fungierte
der bei Emil Staiger in Zürich ausgebildete Peter Szondi (1929-1971), dessen lebensgeschichtliche
Erfahrungen ihn gegenüber der Feier des „Gültigen“ in der Interpretationspraxis seines
Lehrers misstrauisch machten. Schon 1954 erschien im erneuerten Euphorion sein auch
in der Darstellungsform außergewöhnlicher Aufsatz Friedrich Schlegel und die romantische
Ironie, der die Geschichtsauffassung des Frühromantikers herausarbeitete und in der
Artikulation im Fragment die Tragik des an seinem Insuffizienzgefühl leidenden Individuums
benannte (Adam 1997, 248). Seine 1956 im Suhrkamp-Verlag erschienene Promotionsschrift
Theorie des modernen Dramas entwickelte innovative Positionen gegen Geltungsannahmen
der werkimmanenten Interpretation, indem sie das Postulat von einer Harmonie zwischen
Gehalt und Gestalt auflöste und die Unzulänglichkeit der von einem goethezeitlichen
Literaturverständnis ausgehenden Kategorien für die Beschreibung und Deutung neuerer
Literatur dokumentierte. Mit anderen Worten: Sie errichtete nicht mehr ein „vollständiges
Gebäude ästhetischer Architektonik, sondern relativiert die Baupläne, die sie vorfindet“
(Sparr 2002, 170). Die Reichweite dieses relativierenden Umgangs mit vorfindlichen
„Bauplänen“ war beträchtlich. Szondis Theorie des modernen Dramas erlebte rasch mehrere
Auflagen und zahlreiche Besprechungen in den großen Feuilletons; schon 1957 wurde
die Arbeit bei Josef Kunz in Frankfurt/M. in einem universitären Seminar behandelt.
Die auch davon in Gang gesetzten Diskussionen über das Verhältnis von „Werk“ und „Geschichte“
korrespondierten einer Kontroverse, die auf dem Mannheimer Germanistentag von 1962
unter dem Titel Literaturgeschichte und Interpretation verhandelt wurde.
(b) Gegen einfühlend-verstehende und formanalytisch-beobachtende Zugänge der Werkimmanenz
formierten sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre unterschiedliche Bewegungen
zu einer Modernisierung der Literaturforschung, die in ihrer empirisch-rationalen
Fundierung übereinstimmten und ihre Kraft oft nach Verzögerungen entfalteten. Hierzu
zählen neben narratologischen Untersuchungen zu den Bauformen des Erzählens von Günther
Müllers Schüler Eberhard Lämmert (erstmals 1955) und gattungstypologischen Recherchen
der Schüler von Paul Böckmann vor allem auch die Bemühungen um eine „exakte Literaturwissenschaft“
von Max Bense (1910-1990), der seit 1949 den Lehrstuhl für Philosophie der Technik,
Wissenschaftstheorie und mathematische Logik an der Technischen Hochschule Stuttgart
inne hatte und auf der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten von Sprache und menschlichem
Bewusstseins auch poetische Artefakte als Gegenstand heranzog. Geleitet vom Diktum
„Texttheorie deutet nicht, sondern stellt fest“, suchte er historisierende und spekulative
Methoden abzuwehren und machte etwa statistisch feststellbare Verteilung von Häufigkeiten
beliebiger Textkonstituenten zum Gegenstand analytischer Forschungen. – Einen gewichtigen
Beitrag für die empirisch-rationale Begründung der Literaturforschung leistete auch
Käte Hamburger (1896-1992), die 1957 als erste Frau in der Bundesrepublik Deutschland
in der Neueren deutschen Literaturwissenschaft habilitiert wurde – und damit nach
Melitta Gerhard (1927 in Kiel) und Anni Metz (1944 in Kiel) die dritte habilitierte
Wissenschaftlerin in diesem germanistischen Teilfach überhaupt war (Dane 2000, 192).
Die Thesen zu ihrer Habilitationsschrift Die Logik der Dichtung hatte sie während
des Exils in Schweden entwickelt; das 1957 erschienene und 1968 verbesserte Buch wurde
jahrzehntelang kontrovers diskutiert und gilt heute als ein Klassiker der Literatur-
und Gattungstheorie. Auch wenn die von Hamburger behaupteten textinternen Kriterien
zur Bestimmung von Fiktionalität heute nahezu durchgängig falsifiziert sind (und sich
die besondere Qualität fiktionaler Texte nur unter Berücksichtigung semantischer,
pragmatischer und institutioneller Parameter identifizieren wie analysieren lässt),
schmälert dieser Umstand die Verdienste Käte Hamburgers nicht: Ihre sprachtheoretische
Grundierung und Gliederung von Dichtungsarten eröffneten die Möglichkeit, zentrale
Begriffe zur Beschreibung und Erklärung literarischer Phänomene präzise zu bestimmen;
die Orientierung an Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen erlaubte es,
systematische Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie herzustellen.
(c) Noch weiter reichende Varianten des Bezugs von literarischen Texten und philosophischen
Fragestellungen entfaltete ein Werk, das erstmals 1960 erschien und trotz zahlreicher
nicht unproblematischer Aussage zur Geschichte der textinterpretierenden Disziplinen
vielfältige Impulse gab. Hans Georg Gadamers Buch Wahrheit und Methode entwickelte
die „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ und setzte mit der Exponierung des
Verstehens zur „universale[n] Bestimmtheit des Daseins“ auch literaturwissenschaftliche
Diskussionen in Gang. Eine ihrer Folgen war eine Tagungsreihe, deren erste Veranstaltung
im Juni 1963 am Gießener Institut für Poetik und Hermeneutik stattfand und deren Vorlagen
und Verhandlungen ein Jahr später durch Hans Robert Jauß herausgegeben wurden: Der
Austausch zum Thema Nachahmung und Illusion bildete den Auftakt literaturtheoretischer
Sondierungen, die später unter dem Dach der Konstanzer Universität fortgeführt wurden
und in der Verschränkung systematischer Überlegungen und historischer Fallstudien
die Fruchtbarkeit interphilologischer Arbeit dokumentierten. Die daraus hervorgehende
Schriftenreihe Poetik und Hermeneutik sicherte den Anschluss an internationale Diskussionen.
Anregungen für die hier entwickelte, durch den Romanisten Hans Robert Jauß und den
Anglisten Wolfgang Iser auch monographisch entfaltete Aufmerksamkeit für die komplexen
Vorgänge der Rezeption literarischer Texte hatte Gadamer geliefert: Mit einer ebenso
berühmten wie problematischen Metapher umschrieb er „Verstehen“ als „Verschmelzung“
vermeintlich selbständiger „Horizonte“, als „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“
und damit als Resultat und weiterwirkendes Moment von „Wirkungsgeschichte“. Damit
verband sich eine starke Auszeichnung der kulturellen Tradition und ihrer Autorität:
Da auch die historische oder philologische Hermeneutik der „Geltung von Sinn“ zu dienen
habe, könne dieser Sinn – trotz zeitlicher und kultureller Differenz – nur aus dem
Geltungsanspruch der Überlieferung abgeleitet sein. Diese strikt bewahrende These
sollte nicht unwidersprochen bleiben. 1967 überprüfte Jürgen Habermas – der auch eine
fundierte Kritik von Diltheys Einfühlungsmodell vorgelegt hatte – im Rahmen sozialwissenschaftlichen
Theoriebildung den von Gadamer betonten Universalitätsanspruch der Hermeneutik bzw.
seine Auffassung von Sprache als Meta-Institution. Da Sprache von sozialen Systemen
wie Arbeit und Herrschaft abhängig sei, dürfe auch der Geltungsanspruch sprachlich
vermittelter Tradition nicht unbefragt bleiben: Die Kraft der Reflexion bewähre sich
gerade darin, dass sie den Anspruch von Traditionen auch abweisen kann. Anstelle eines
traditionsorientierten Sinnverstehens projektierte Habermas eine „Sinnkritik“ mit
emanzipatorischem Potential, das er wissenschaftstypologisch in den Sozialwissenschaften
angelegt sah und als deren Muster die Psychoanalyse Sigmund Freuds begriffen wurde:
Dieser selbstreflexiven „Tiefenhermeneutik“ gehe es (z. B. in der Traumdeutung) um
die Entzifferung des vom Texturheber nicht bzw. nicht bewusst Intendierten anhand
der Spuren, die es im Text gleichwohl hinterlässt – und zwar mit dem Ziel, den eigenen
Bildungsprozess einzusehen und dessen pathogene Elemente aufzulösen.
Wirkungen der philosophischen Hermeneutik und ihrer kritischen Reflexion, die zu methodischen
Innovationen in der Literaturwissenschaft der Bundesrepublik führen, setzten jedoch
erst in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein. Zuvor vollzogen sich Veränderungen,
die im Jahr 1966 eine gleichsam ereignishafte Verdichtung erfahren sollten. Bevor
diese Ereignisse und ihre Konsequenzen – die noch die Gegenwart der institutionalisierten
Literaturwissenschaft betreffen – abschließend skizziert werden, sind knapp die Entwicklungen
in der Literaturwissenschaft in der DDR und in Osteuropa zu umreißen.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
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