Konzepte und Methoden
Der weitgehenden Kontinuität auf institutioneller und personeller Ebene entsprach
die Beibehaltung von Konzepten und Methoden – sofern diese nicht nachhaltig diskreditiert
waren. Möglich wurde diese Beständigkeit durch Weichenstellungen, die das Wissenschaftssystem
in den Jahren der NS-Herrschaft vorgenommen hatte: Zum einen war die universitäre
Literaturforschung zumindest partiell einem kognitiven Eigensinn verpflichtet geblieben
und hatte sich nicht vollständig an das eklektische Ideenreservoir des Nationalsozialismus
assimiliert. Weder stammesethnographische Literaturgeschichtsschreibung noch rassentheoretische
Deduktionen hatten zu dominierenden Paradigmen avancieren können; der Zusammenbruch
der NS-Herrschaft bedeutete das klanglose Ende der ihnen verpflichteten Textumgangsformen.
Diese (bereits vor 1933 bekundete) Resistenz galt nach 1945 als Beleg für eine vermeintliche
Autonomie: Von Josef Nadlers stammeskundlicher Literaturgeschichte habe sich die disziplinäre
Gemeinschaft „rechtzeitig und energisch abgesetzt“, betonte Horst Oppel in seinem
1953 veröffentlichten Bericht Zur Situation der Allgemeinen Literaturwissenschaft,
um die Integrität einer Disziplin hervorzuheben, die „politisierende Sprecher wie
K. J. Obenauer, H. Kindermann, W. Linden und F. Koch ihr Programm einer ‚volkhaften
Literaturwissenschaft’ ausposaunen ließ, während sie gleichzeitig in aller Stille
unverdrossen und mit dem nötigen Ernst weitergearbeitet hat“ (Oppel 1953, 9f.). Die
hier gepriesene „unverdrossene Arbeit“ geschah freilich nicht „in aller Stille“, sondern
bestand in einer bereits Anfang der 1940er Jahr visibilisierten Umstellung des Umgangs
mit Literatur, die für konzeptionelle und methodische Kontinuität in der Nachkriegszeit
sorgte: Es war die von verschiedenen Anstößen inspirierte Beschäftigung mit dem „Werk“
und seine „Auslegung“, die im erwähnten Sammelband Gedicht und Gedanke von 1942 sichtbar
wurden, bevor sie nach 1945 zur zentralen Thematisierungsweise und Darstellungsform
aufsteigen konnten.
Die Exponierung des „sprachlichen Kunstwerks“ zum primären Gegenstand der Forschung
und seine „immanente Interpretation“ war jedoch keine Reaktion auf politische Lenkungsansprüche
oder wissenschaftliche Deformationen in der NS-Zeit, sondern vielmehr ein Resultat
längerfristiger und komplexer Entwicklungen. Die institutionalisierte Beschäftigung
mit Literatur, die es trotz programmatischer Verlautbarungen im Jahr 1933 nicht vermocht
hatte, sich auf ein methodologisches Fundament zu einigen und als „politische Lebenswissenschaft“
zum „Kerngebiet der Bildung“ (Walter Linden) aufzusteigen, suchte seit Mitte der 1930er
Jahre verstärkt nach Konzepten, die eine neuerlich drohende „Grundlagenkrisis“ durch
Eröffnung neuer Forschungsfelder überwinden und verlorene Kompetenzen zurückgewinnen
sollten. Chancen zur Ablösung der innovationsunfähigen und als „Handbuchwissenschaft“
stagnierenden Geistesgeschichte boten sowohl Heideggers Erläuterungen zu Hölderlins
Dichtung als auch die phänomenologische Ästhetik Roman Ingardens, die nach harscher
Zurückweisung noch Anfang der 1930er Jahre nun verstärkt zu wirken begann (Krenzlin
1979, 131-157). Zugleich zeigten fortgesetzte Detailforschungen zu Gattungs-, Stil-
und Formproblemen die Chance, das Einzelwerk aus geistesgeschichtlich, stammestheoretisch
oder rassenkundlich konditionierten Kontexten herauszulösen und in seiner ästhetischen
„Gestalt“ zu erfassen. Schon 1929 hatte der bei Friedrich Gundolf in Heidelberg ausgebildete
Paul Böckmann den Literaturwissenschaftlern des George-Kreises attestiert, einen „neuen
sinn für die dichterische sprache, für die gestaltende kraft des künstlers, für die
innere unvergleichbarkeit seines werkes“ geweckt zu haben, der vor allem der „immanenten
interpretation des einzelnen dichters“ zugute gekommen sei. [103] Auf diese Anläufe
rekurrierend, hatte sich Ende der 1930er Jahre ein breiteres Spektrum von Forschungsrichtungen
formiert: Neben den Versuch, dichterische Zeugnisse als Ausdruck poetisch geformter
Individualität zu exponieren und „zu begreifen, was uns ergreift“ (Emil Staiger),
traten Bemühungen zur Analyse von formalen Gestaltungsprinzipien in Gattungen bzw.
Einzelwerken sowie Bestrebungen, das Gehalt-Gestalt-Gefüge des literarischen Werkes
in Analogie zu natürlichen Prozessen „morphologisch“ zu deuten. Die intensivierte
Beschäftigung mit dem „Werk“, dessen ästhetische Dimensionen maximiert und außerliterarischen
Bezügen vorgeordnet wurden (Danneberg 1996), löste einen Schub an Innovation und interner
Differenzierung aus, der den neuen Konzepten Durchsetzungskraft innerhalb der fachinternen
Debatten sicherte und Wolfgang Kayser 1948 von einem „neuen Abschnitt in der Geschichte
der literarischen Forschung“ [104] sprechen ließ. Gleichzeitig reagierte die Disziplin
mit der Wendung zum „Werk“ auf wissenschaftsexterne Anforderungen: Die Deutschlehrerausbildung,
die das Fach abzusichern hatte, verlangte nach didaktisch vermittelbaren Interpretationen
von Dichtungen, die im Mittelpunkt des schulischen Deutschunterrichts standen. Mit
der Abkehr von den großräumigen Synthesen der Geistesgeschichte und der Exponierung
des „Werkes“ zum primären Gegenstand interpretatorischer Praxis schien ein Ausweg
aus der Krise gefunden, die seit der Desillusionierung der Hoffnungen auf ein basales
methodologisches Fundament akut geworden war und 1945 offen zum Ausbruch kam. Programmatisch
formulierte es Karl Viëtor im Jahr des Kriegsendes: „Der Hauptgegenstand der Bemühungen
hat das gestaltete Werk in seiner sinnlich-spirituellen Ganzheit zu sein – ein Phänomen
‚sui generis’, nicht ein Spiegel oder Ausdruck von Kräften und Bewegungen anderer
Sphären. Dadurch bekommt die Interpretation wieder den Platz, der ihr gebührt: sie
wird wieder zur Haupt- und Grundkunst des Literaturwissenschaftlers“ (Viëtor 1945,
912).
Die Bewegung, die das literarische Kunstwerk zum Ausgangs- und Zielpunkt der literaturwissenschaftlichen
Beschäftigung erhob, folgte jedoch keinem homogenen Programm. Im Gegenteil. Während
die von Emil Staiger initiierte Richtung das von der Dichtung ausgelöste „Gefühl“
zur Quelle ästhetischen Empfindens und seine Auslegung zum Ziel literaturwissenschaftlichen
Arbeitens erklärte, [105] favorisierten Wolfgang Kayser und der ihm folgende Flügel
eine „Formanalyse“, die nach einer zeitgenössischen Beobachtung „unverkennbar auf
das Berechenbare, den Kalkül und das Regelhafte“ [106] hinauslief. Dennoch sind Berührungspunkte
nicht zu übersehen: Der Schweizer Germanist Emil Staiger – der 1932-34 Mitglied der
Nationalen Front war und seine Probevorlesung an der Universität Zürich im Wintersemester
1934/35 dem Roman Volk ohne Raum des NS-Schriftstellers Hans Grimm gewidmet hatte
(Schütt 1996) – konzentrierte sich seit dem Rückzug aus politischem Engagement auf
die als „vollkommen“ bestimmten „Kunstgebilde“ der deutschen Literatur und suchte
zu ermitteln, „wie alles im Ganzen und wie das Ganze zum Einzelnen stimmt“. [107]
Die von Wolfgang Kayser während seiner Zeit in Lissabon verfasste und 1948 veröffentlichte
Grundlegung Das sprachliche Kunstwerk ging von einem europäisch dimensionierten Literaturbegriff
aus und zielte auf die „Ganzheit des einzelnen Werkes“ als ein „in sich geschlossenes
sprachliches Gefüge“. [108] Nationalphilologische Beschränkungen überwindend, erhob
auch Kaysers Konzept von Literaturbeobachtung einen Anspruch, der Staigers Programm
korrespondierte: Im Zentrum seiner Bemühungen stand das „besondere Vermögen solcher
literarischen Sprache, eine Gegenständlichkeit eigener Art hervorzurufen, und der
Gefügecharakter der Sprache, durch den alles in dem Werk Hervorgerufene zu einer Einheit
wird“. [109]
Die von Günther Müller seit Beginn der 1940er Jahre projektierte „morphologische Literaturwissenschaft“
suchte dagegen nach einem strukturellen Zugriff auf die „Gestalt“ des dichterischen
Werkes – und schloss an intensiv geführte Diskussionen um eine Neugestaltung des Wissenschaftssystems
an, die in Kultur- und Naturwissenschaften seit den 1920er Jahren geführt worden waren
(Klausnitzer 2000). Günther Müller war der einzige Literaturwissenschaftler, der sich
an dem durch die Naturwissenschaftler Wilhelm Troll und Karl Lothar Wolf zwischen
1941 und 1945 organisierten Gestalt-Kolloquium an der Hallenser Universität beteiligte;
seine Schrift Die Gestaltfrage in der Literaturwissenschaft und Goethes Morphologie
erschien 1944 in der Schriftenreihe Die Gestalt, in deren „Editorial Board“ neben
dem Psychologen Johannes von Allesch, dem Mathematiker und Kepler-Herausgeber Max
Caspar, dem Mineralogen Paul Niggli, dem Biologiehistoriker Emil Ungerer, dem Chemiker
Conrad Weygand und dem Biologen Richard Woltereck auch die Philosophen Hans Georg
Gadamer und Kurt Hildebrandt, der Jurist Ernst von Hippel, der Altphilologe Walter
Friedrich Otto, der Thomas-Kantor Günther Ramin, der Theologe Friedrich Karl Schumann
und der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr vertreten waren. Mit der direkten Applikation
der in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften entfalteten Idee des „ewig Einen,
das sich vielfach offenbart“ auf das dichterische Kunstwerk, das als ein gestaltetes
und gestalthaftes Ganzes in Analogie zum „Formtypus“ der Pflanze zu begreifen sei,
führte Müller in mehrfacher Hinsicht morphologische Vorgaben fort und suchte sie mit
den Bedürfnissen der Literaturforschung kompatibel zu machen. Zum einen übernahm er
das emphatische Organismusdenken für eine Heuristik, die innovative und anschlussfähige
Beschreibungsinstrumentarien bereitzustellen schien: Prinzipien der morphologischen
Botanik, in die sich Müller durch die Aufsatzsammlung Gestalt und Urbild des Botanikers
Wilhelm Troll einweihen ließ, direkt auf literarische Texte übertragend, konnten Bauformen
der natürlichen Pflanzengestalt und die ihnen zugeschriebenen Kräfte („Vertikal- und
Spiraltendenz“, „Führkraft“ und „Schwellkraft“) in der Gestalt der dichterischen Werke
wieder erkannt und benannt werden. Der so praktizierte Anschluss an den „neuen Aufbruch
des biologischen Denkens“ [110] schlug eine Brücke zur neuen Leitdisziplin des Wissenschaftssystems
und offerierte Distinktionsgewinne gegenüber einer Geistesgeschichte, die ihre konzeptionellen
und methodischen Vorgaben vor allem der Philosophie entnommen hatte. Zugleich erhoffte
auch Günther Müller in Übereinstimung mit zahlreichen Projektanten gestalthafter Wissenschaftsprogramme,
durch „bewußte Ausrichtung an Goethes Morphologie“ den neuzeitlichen Differenzierungsprozess
des Wissenschaftssystems umkehren und „hinter die Aufspaltung von Geistes- und Naturwissenschaften
und von vielen anderen dogmatischen Fixierungen“ zur „Einheit des immerfort zeugenden
und zerstörenden Lebens zurückfinden“ zu können. [111] Die weitreichendsten Ergebnisse
einer so begründeten „morphologischen Literaturwissenschaft“ waren Müllers Beiträge
zur Narratologie (insbesondere zur Bedeutung der Zeit in Erzähltexten) und Eberhardt
Lämmerts Dissertation Bauformen des Erzählens, die aus der kleinen Interpretationsgemeinschaft
der in Müllers Bonner Oberseminar aufgenommenen Studenten und der hier gepflegten
„Askese des genauen Hinsehens, Messens und Vergleichens“ [112] hervorging und zu einem
mehrfach nachgedruckten „Klassiker“ der Literaturforschung werden sollte.
Eine weitere für die westdeutsche Literaturwissenschaft der Nachkriegszeit bedeutsame
Variante des Umgangs mit dem „Werk“ prägte Paul Böckmann, der 1949 den ersten Band
einer Formgeschichte der deutschen Dichtung vorlegte. Auch diese Darstellung suchte
nach einer Alternative zur geistesgeschichtlichen Literaturforschung und wollte dazu
die „Verfahrensweisen der Dichter“ untersuchen, um durch „genaue Textbeobachtung“
die „Vorstellungs- und Kompositionsweise“ bestimmen und die „jeweilige Sprachfähigkeit
und Sprachleistung“ in ihrer historischen Bestimmtheit markieren zu können. [113]
Den innovativen Anspruch des fast 700 Seiten starken Buches (wie auch die Ignoranz
gegenüber der Literaturforschung jenseits der deutschen Grenzen) dokumentierte das
Vorwort: Da die verfolgte Fragestellung – „Leistung und Bedeutung der poetischen Werke
von der Form her zu erläutern“ – bisher „kaum irgendwo grundsätzlicher aufgegriffen
und durchgeführt“ worden sei, stelle das Unternehmen einen Vorstoß ins „Neuland“ dar,
bei dem sich der Forscher „eigene Wege“ bahnen müsste. [114] Spezifisch für die neuartige
„formgeschichtliche Betrachtungsweise“ sei eine „entschiedene Umwendung in der Blickrichtung“:
„Sie sucht Dichtung als Dichtung zum Forschungsgegenstand zu machen und sieht sich
deshalb genötigt, bis zur konkreten Struktur des jeweiligen Werkes vorzufragen.“ [115]
– Auf den ersten Band dieser Formgeschichte, der u.d.T. Von der Sinnbildsprache zur
Ausdruckssprache die Wandlungen literarischer Konfigurationen vom Mittelalter bis
zur Neuzeit behandelte, folgte jedoch keine Fortsetzung; der angekündigte zweite Band
des Unternehmens Die Entfaltung der Ausdruckssprache blieb aus. Die bis 1973 viermal
aufgelegte Formgeschichte der deutschen Dichtung wie auch ihr Verfasser hatten dennoch
einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die sich langsam wandelnde Literaturwissenschaft
im Westen Deutschlands. Als Surrogat für eine in der NS- und Nachkriegszeit ausgebliebene
Rezeption formalistischer und strukturalistischer Beschreibungsverfahren bereitete
die Thematisierung formhistorischer Entwicklungen die Aufnahme der vom russischen
Formalismus und tschechischen Strukturalismus entwickelten Konzepte und Instrumentarien
vor: Der spätere Popularisator des Formalismus Jurij Striedter war ein Schüler Paul
Böckmanns, der als einflussreicher „Großordinarius“ in Heidelberg und Köln zum Lehrer
und Anreger mehrerer Generationen von Germanisten wurde. Unter seinen über 60 Doktoranden
befanden sich neben Walter Müller-Seidel und Hans-Henrik Krummacher der Goethe-Spezialist
Rolf Christian Zimmermann und der Humoristikforscher Wolfgang Preisendanz; noch 1967
betreute Böckmann die Dissertation von Jürgen Petersen Die Rolle des Erzählers und
die epische Ironie im Frühwerk Thomas Manns und wirkte so auf die Erzählforschung
in der Bundesrepublik. (Nicht ohne Grund erschien 1964 die von W. Müller-Seidel gemeinsam
mit W. Preisendanz herausgegebene Festschrift zum 65. Geburtstag des gemeinsamen Lehrers
u.d.T. Formenwandel mit Aufsätzen über „Formen“, „Kunst der Darstellung“, „Sprache
als Erzählform“ und „Gestaltwandlung“ etc.)
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Wichtige Texte der deutschen Literaturwissenschaft
nach der politischen Zäsur des Jahres 1945 (Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik
von 1946 und die 1955 publizierte Aufsatzsammlung Die Kunst der Interpretation; Wolfgang
Kaysers 1948 veröffentlichte „Einführung in die Literaturwissenschaft“ Das sprachliche
Kunstwerk, die Beiträge zur „morphologischen Poetik“ von Günther Müller und die 1949
gedruckte Formgeschichte der deutschen Dichtung von Paul Böckmann) waren Resultat
langfristig verfolgter Forschungen. Sie dokumentierten divergierende Bewegungen, die
fast zwei Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatten und nun systematische Darstellungen fanden.
Übereinstimmend beförderten sie eine Umstellung der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit,
mit der sich die Autonomie der Disziplin auch unter veränderten Rahmenbedingungen
bewahren ließ: Die Konzentration auf das ästhetisch maximierte und als relationales
Beziehungsgefüge gedachte Werk erlaubte es, neue Frage- und Problemstellungen zu thematisieren
und zugleich ahistorische Konstruktionen festzuschreiben (Gärtner 2001, Scherer 2005).
Als Ersatz für die in Deutschland noch immer ausbleibende Rezeption formalistischer
Konzepte erbrachten diese proto- bzw. pseudostrukturalistischen Ansätze zwar partielle
konzeptionelle wie methodologische Modernisierungsleistungen. Die in ihnen virulenten
goethezeitlichen Ganzheitskonzepte leiteten aber ihre Gattungsvorstellungen ebenso
wie die Auffassung von einem harmonischen Zusammenhang zwischen Gestalt und Gehalt.
Widerspruchsvoll vollzog sich auch die Erschließung neuer Gegenstandsbereiche. Die
bislang eher misstrauisch observierte Moderne fand trotz Hugo Friedrichs Bestseller
Die Struktur der modernen Lyrik von 1956 – der als „Struktur“ das zu erfassen suchte,
was früher „Stil“ hieß – nur langsam Aufmerksamkeit; selbst der international aufgeschlossene
Wolfgang Kayser stand neueren Entwicklungen eher skeptisch gegenüber (Grossegesse/
Koller 2001). Auch die vielfältigen Beziehungen zwischen deutscher und europäischer
Literaturentwicklung blieben vorerst ein Stiefkind der germanistischen Literaturforschung.
Genau diesen Beziehungen widmeten sich zwei literaturwissenschaftliche Monographien,
die als Ergebnis langfristig verfolgter Forschungen von Romanisten nach 1945 erschienen:
Erich Auerbachs 1946 veröffentlichtes Buch über „dargestellte Wirklichkeit in der
abendländischen Literatur“ Mimesis war Resultat der Arbeit im Istanbuler Exil; das
zwei Jahre später von Ernst Robert Curtius vorgelegte Werk Europäische Literatur und
lateinisches Mittelalter ging auf langjährige Vorarbeiten in Bonn sowie auf rege Reiseerfahrungen
im europäischen Ausland zurück. Ernst Robert Curtius (1886-1956), der eine kontinuierliche
akademische Karriere absolviert hatte – 1920-24 war er Ordinarius für Romanische Philologie
in Marburg, 1924-1929 in Heidelberg, von 1929 an bis zu seiner Emeritierung 1951 in
Bonn – hatte bereits unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkrieges für eine Aussöhnung
mit dem „Erbfeind“ geworben und 1922/24 als erster Deutscher nach dem Weltkrieg an
den „Décades de Pontigny“ teilgenommen. Seine Beschäftigung mit Autoren wie André
Gide, Paul Claudel und Romain Rolland löste innerhalb und außerhalb der disziplinierten
Romanistik heftige Kontroversen aus. Neben der Arbeit an seinem Werk Die französische
Kultur (Berlin 1930) erschloss er sich in den 1920er Jahren auch die Moderne. Nachdem
er im Warnruf Deutscher Geist in Gefahr (Stuttgart 1932) eine Erneuerung der europäischen
Kultur aus dem Geist des christlich-romanischen Mittelalters propagiert hatte, zog
er sich zwischen 1933 und 1945 aus der Öffentlichkeit zurück und widmete sich der
wissenschaftlichen Fundamentierung dieses kulturpolitischen Programms. In den „Ausdruckskonstanten“
der Literatur und namentlich im übernationalen lateinischen und mittellateinischen
Schrifttum, das die grundlegende griechisch-römische Antike stetig rezipiert und umgewandelt
hatte, entdeckte er nun eine Einheit verbürgende Klammer, die er in der 1948 in Bern
veröffentlichten Summe Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter entfalten
sollte. Hier belegte Curtius – auch durch Aby Warburg und dessen Schule angeregt –
die Kontinuität der abendländischen Kulturentwicklung durch die Rekonstruktion von
Topoi, d.h. von bestimmten Denk-, Ausdrucks- und Anschauungsformeln, deren Nachleben
von der antiken Rhetorik bis in die volkssprachliche Literaturen der Neuzeit er nachzeichnete.
Mit der Kritik an Unschärfe und Ungeschichtlichkeit von Curtius’ Toposbegriff wurde
deren Erforschung zu einem eigenen Arbeitsfeld der Literaturwissenschaft. – Eine ähnlich
weitreichende Perspektive entwickelte Erich Auerbach (1892-1957), der von 1930 bis
zur Zwangspensionierung wegen seiner jüdischen Herkunft 1935 Professor in Marburg
war, in seinem im Exil entstandenen Buch Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der
abendländischen Literatur. Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der beschränkten Bibliotheksverhältnisse
in Istanbul und dem mangelnden Zugang zu aktueller Forschungsliteratur verfasste er
eine anregende Literaturgeschichte, die sich nicht an nationale und epochale Grenzen
hielt: Ihr Bogen spannt sich von Homer und dem Alten Testament bis zu Virginia Woolf
und Marcel Proust. Jedes der 20 Kapitel geht von einer ausgewählten Textpassage aus,
die detailliert stilistisch analysiert wird, um auf dieser Basis zur Rekonstruktion
der „Wirklichkeitssicht“ des Gesamtwerkes aufzusteigen. Im Vergleich mit Parallel-
und Kontraststellen bei zeitgenössischen Autoren wird schließlich ein Bild des Charakters
oder „Geistes“ der jeweiligen Epoche entworfen.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
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