Institutionelle und personale Rahmenbedingungen

Die Gestaltung der universitären Literaturwissenschaft in den westlichen Besatzungszonen und der 1949 gegründeten Bundesrepublik (wie auch in der SBZ bzw. der späteren DDR) vollzog sich im Rahmen überkommener institutioneller Strukturen und personaler Konstellationen: Zwar gingen die Universitäten in Königsberg, Prag, Posen und Straßburg verloren und die Gießener Hochschule büßte für 12 Jahre den Universitätsstatus (mitsamt Philosophischer Fakultät) ein; doch entstanden neue Germanistische Seminare an den neu gegründeten Universitäten Mainz, Saarbrücken und an der Freien Universität im Amerikanischen Sektor Berlins, die in ihrer Binnengliederung die seit Ende des 19. Jahrhunderts bewährte Einteilung in Neue bzw. Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Ältere deutsche Literatur/ Sprachwissenschaft behielten. Weitgehend konstant blieb auch das Personal, das hier lehrte und forschte. Nur wenige der politisch diskreditierten Hochschullehrer verloren für immer ihre Stellen. Zu ihnen zählten Ernst Bertram (1922-1946 ordentlicher Professor für Neuere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Köln), Herbert Cysarz (1938-1945 ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität München), Gustav Bebermeyer (1933-1945 ordentlicher Professor für Deutsche Volkskunde an der Universität Tübingen); Alfred Götze (1925-1945 ordentlicher Professor für deutsche Philologie, besonders für Sprachgeschichte und ältere Literatur an der Universität Gießen), Franz Koch (1936-45 ordentlicher Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Berliner Universität), Arno Mulot (1939-1945 Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Hochschule für Lehrerbildung Darmstadt), Friedrich Neumann (1927-1945 ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Göttingen), Karl Justus Obenauer (1935-1949 ordentlicher Professor für Neuere deutsche Sprache und Literaturgeschichte an der Universität Bonn), Hermann Pongs (1929-1942 ordentlicher Professor für deutsche Literatur an der TH Stuttgart, 1942-45 ordentlicher Professor für deutsche Philologie, insbesondere Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Göttingen). In Österreich traf es Karl Polheim (1929-1945 ordentlicher Professor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Graz) und Josef Nadler (1931-1945 ordentlicher Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Universität Wien). Zahlreiche der entlassenen Professoren wurden jedoch später mit vollen Bezügen emeritiert. Etliche von ihnen unterrichteten auch im erzwungenen Ruhestand weiter, so wie etwa Gustav Bebermeyer, der bis 1975 germanistische Lehrveranstaltungen an der Universität Tübingen anbot. Auch schwer belastete Literaturwissenschaftler wie Gerhard Fricke, Hennig Brinkmann, Willi Flemming und Otto Höfler gelangten – zum Teil nach längerer Unterbrechung – wieder in Amt und Würden. Besonders eklatant war der Fall des österreichischen Germanisten Heinz Kindermann: Gegen den Willen der Fakultät 1936 an die Universität Münster berufen und 1943 auf den neu errichteten theaterwissenschaftlichen Lehrstuhl nach Wien zurückgekehrt, wurde er 1945 außer Dienst gestellt – doch 1954 trotz zahlreicher Proteste wieder in sein Amt eingesetzt und bis zur Emeritierung 1969 als Professor beschäftigt. Die Herstellung personeller Kontinuität basierte auf jener kollektiven Bereitschaft zum Verdrängen und Beschweigen, die noch ein halbes Jahrhundert später die sensibilisierte Forschung und die Öffentlichkeit bewegen sollte: Das 1995 mit nachhaltigem Medienecho aufgedeckte Doppelleben des Literaturhistorikers Hans Ernst Schneider, der in der SS-Organisation Deutsches Ahnenerbe den „Germanischen Wissenschaftseinsatz“ im besetzten Europa koordiniert hatte, bevor er unter dem Namen Hans Schwerte in der Bundesrepublik zum Lehrstuhlinhaber und Hochschulrektor aufsteigen konnte, belegt in besonders drastischer Weise das Beharrungsvermögens eines Wissenschaftssystems, in dem Netzwerke und Einstellungen mit nachhaltiger Resistenz auf die Brüche der Realgeschichte reagierten. Ob der Fall Schneider/ Schwerte eine „gruppenkollektive Vergessens- und Ignorierungsbereitschaft“ dokumentiert (Jäger 1998, S. 165) oder dessen wechselvolle Biographie die westdeutsche Gesellschaft repräsentiert, die sich mit der Verarbeitung von Erfahrungen vom Nationalsozialismus zur Demokratie entwickelt habe (Leggewie 1998), ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Als sicher kann jedoch gelten, dass dem Bruch auf politischer Ebene nur wenige sichtbare Veränderungen in der wissenschaftlichen Praxis korrespondierten und dass namentlich die deutsche Literaturwissenschaft eine bereits 1933 demonstrierte Einheit von „politischer Diskontinuität und wissenschaftsgeschichtlicher Kontinuität“ auch im Jahr 1945 zu wahren wusste (so Voßkamp 1990, 242; präzisiert durch Barner/ König 1996 sowie Gärtner 1997).
Denn nicht nur auf der Ebene der Institutionen und Personen folgte die universitäre Beschäftigung mit Literatur den seit Ende des 19. Jahrhunderts ausgeprägten Bahnen. Als stabil erwiesen sich zugleich die kommunikativen Plattformen der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Während nur wenige philosophische Zeitschriften überlebten, zeigten literaturwissenschaftliche Periodika eine erstaunliche Beständigkeit. Die renommierten Organe Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (DVjS), Germanisch-Romanische Monatsschrift (GRM) und Zeitschrift für deutsche Philologie (ZfdPh) erschienen nach unterschiedlich langen Pausen wieder; der zu Dichtung und Volkstum umbenannte Euphorion erlebte eine Wiedergeburt unter altem Namen (Adam 1994; Adam 1996). Die einer traditionellen Philologie verpflichteten Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur wie die Zeitschrift für deutsches Altertum behielten sogar ihre Herausgeber. Ohne Fortsetzung blieben dagegen die schulpädagogisch ausgerichteten Organe Zeitschrift für deutsche Bildung und Zeitschrift für Deutschkunde; neu begründet wurden die Fachblätter Wirkendes Wort und Der Deutschunterricht. – Kontinuität prägte auch das akademische und literaturwissenschaftliche Vereinswesen. Der 1952 gegründete Deutsche Germanistenverband berief sich ausdrücklich auf die 1912 gegründete Vorgängerorganisation gleichen Namens (Röther 1980, S. 328f). Nahezu alle literarischen Gesellschaften, die mit ihren Veranstaltungen und Zeitschriften ein Wirkungsfeld der universitären Literaturforschung bildeten, bestanden weiter. Doch überlebten nicht nur die weniger kompromittierten Gesellschaften, die das Andenken Goethes oder der Annette von Droste-Hülshoff pflegten – auch die willfährig instrumentalisierten Grabbe-, Eichendorff- und Wilhelm-Raabe-Gesellschaft konnten sich nach Phasen mehr oder weniger langer Unterbrechung wieder etablieren. Um sich von ihrer befleckten Vorgängerin abzugrenzen, wurde die Hebbel-Gesellschaft 1947 neu begründet. Die Kleist-Gesellschaft, die sich 1933 bereitwillig selbst „gleichgeschaltet“ hatte, löste sich ganz auf; die 1960 konstituierte Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft sah sich nachdrücklich nicht als deren Rechtsnachfolgerin an. Kontinuität besonderer Art demonstrierte der Umgang mit Friedrich Hölderlin: Die 1943 unter Schirmherrschaft von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels begründete Hölderlin-Gesellschaft brachte nicht nur ein Jahrbuch hervor, das (nach Aufgabe des Namens Iduna, unter dem es 1943/44 erschien) seit 1947 fortgesetzt wurde. In ihr sammelten sich zugleich die Editionsphilologen, die nach Kriegsende die während der NS-Zeit begonnene Große Stuttgarter Ausgabe der Werke Hölderlins weiterführten. Nun finanzierte die französische Militärregierung das Projekt, das vorher das Propagandaministerium unterstützt hatte (Kahlefendt 1993, 163; Oellers 1996, 111). Auch die noch vom Berliner Groß-Ordinarius Julius Petersen konzipierte und während des Krieges begonnene Schiller-Nationalausgabe fand ihre Fortsetzung: Den neunten Band mit den Dramen Maria Stuart und Die Jungfrau von Orleans gab 1948 Gerhard Fricke heraus, der als Redner bei der Bücherverbrennung in Göttingen und als Mitherausgeber des Sammelwerkes Von deutscher Art in Sprache und Dichtung – dem Beitrag der Germanistik zum „Kriegseinsatz der deutschen Geisteswissenschaften“ – solche Gefolgstreue demonstriert hatte, dass er 1941 als Ordinarius an die Reichsuniversität Straßburg berufen wurde. Nach diversen Stationen lehrte Fricke von 1961 bis 1966 als Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Universität Köln – und hielt hier zu Beginn des Sommersemesters 1965 vor seinen Studenten eine Rede, die erstmals offen eigene und disziplinäre Verfehlungen während der NS-Zeit benannte sowie Gründe für ein Engagement im Dritten Reich anzugeben versuchte (Fricke 1997; dazu Schnabel 1997).

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