Restauration und Modernisierung. Literaturwissenschaft in der BRD und in Westeuropa
   
Als im September 1945 die Göttinger Universität als erste deutsche Hochschule nach
   Kriegsende wieder öffnete, erlebte sie (wie ihre Nachfolger Jena und Freiburg, im
   November Hamburg und Tübingen) einen bis dahin ungekannten Ansturm von Studierwilligen.
   Die Zahl der Immatrikulationsanträge, die den jeweils gültigen Numerus Clausus oft
   um ein Mehrfaches überschritt, war eine Folge des Krieges: Angehöriger sehr vieler
   Jahrgänge, unter ihnen ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene, wollten auf einmal
   ein Studium aufnehmen. Ungewöhnlich war auch die überproportional große Menge von
   Studierenden in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern: Enthusiastisch
   suchte man nach Orientierung und Werten, die im zeitweise sehr erfolgreichen Studium
   Generale wie in einer sich nun humanistisch gerierenden Literaturwissenschaft gefunden
   werden sollten. Rückbesinnung auf universale Werte und überzeitliche Geltungsansprüche
   suggerierte jedenfalls die Rhetorik, die professionelle Sachwalter der Literaturforschung
   nun an den Tag legten. Der Tübinger Ordinarius Paul Kluckhohn, der 1934 einen Auswahlband
   Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung vorgelegt hatte, schrieb
   über Die Idee des Menschen in der Goethezeit (Stuttgart 1946); Hellmuth Langenbucher,
   als Leiter des Gesamtlektorats der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums
   und Hauptschriftleiter des Börsenblatts für den deutschen Buchhandels ein „Literaturpapst“
   des NS-Staates, erstellte unter dem Pseudonym Hermann Engelhard jetzt Klassikerausgaben
   für den Stuttgarter Cotta-Verlag und gab 1955 ein Lyrik-Lesebuch „für Feier und Besinnung
   in Schule und Haus“ heraus, das deutliche mache, „daß die Menschheit weder religiöse,
   noch rassische, noch nationale Grenzen kennt“. [102] Die Restauration humanistischer
   Ideale blieb nicht auf den Westen Deutschlands beschränkt. Der Leipziger Ordinarius
   Hermann August Korff, im Jahr 1933 eifriger Bekenner, kompilierte 1947/48 eine zweibändige
   Anthologie unter dem Titel Edel sei der Mensch; Joachim Müller, von 1937 bis 1944
   Mitherausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift für Deutschkunde, veröffentlichte
   1948 seinen Vortrag Die völkerverbindende Kraft der Weltliteratur. – Humanistische
   Wendungen und rhetorisches Pathos konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass
   institutionelle Gliederung und personale Strukturen des Wissenschaftssystems weitgehend
   erhalten blieben. Doch nicht nur Institutionen und Personen überlebten den realgeschichtlichen
   Umbruch (wenn sie nicht zu offensichtlich kompromittiert waren) – auch Konzepte, Methoden
   und Werte der Literaturforschung bestanden fort.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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   Restauration und Modernisierung. Literaturwissenschaft in der BRD und in Westeuropa
   
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