Soziologische und sozialgeschichtliche Ansätze
Die dennoch verfolgten Ansätze zu einer gesellschaftsbezogenen Thematisierung von
   Literatur, die unter Bezeichnungen wie „sozialliterarische Methode“ (Paul Merker),
   „psychogenetische Literaturwissenschaft“ (Fritz Brüggemann), „Geschmacksgeschichte“
   (Levin Schücking) oder „soziologische Literaturgeschichtsforschung“ (Alfred Kleinberg)
   firmierten, wurden inspiriert von Karl Lamprechts universaler Kulturgeschichtsschreibung,
   die das geistige Leben aus wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zu erklären
   suchte. Nach Erhebung seiner Disziplin zu einer exakten Wissenschaft strebend, hatte
   der in Leipzig lehrende Historiker die Geschichte nicht als Folge von Ereignissen,
   sondern als gesetzmäßigen Ablauf materialer Entwicklungsstufen in Wirtschaft und Gesellschaft
   beschrieben. Eine gewisse Attraktivität gewannen auch die Kategorien der von Wilhelm
   Wundt entwickelten „Sozialpsychologie“, die der Literaturwissenschaft die Möglichkeit
   bot, ihre Grundlagen kulturhistorisch zu erweitern (Benda 1928, 20-25). Nachdem der
   Philosoph Erich Rothacker bereits 1912 Lamprechts Verdienste gewürdigt und Anschlussmöglichkeiten
   der Geisteswissenschaften aufgezeigt hatte, [62] betonte der Germanist Paul Merker
   (1881-1945) in seiner Programmschrift Neue Aufgaben der deutschen Literaturgeschichte
   von 1921 die Fruchtbarkeit von Lamprechts Geschichtsauffassung für eine veränderte
   Untersuchungsperspektive: „An Stelle des Einzelwerkes und der Einzelpersönlichkeit,
   die sonst im Vordergrund des Interesses steht und den Ausgangspunkt, vielfach aber
   zugleich auch den Endpunkt der Betrachtung bildet, liegt hier der Schwerpunkt auf
   der societas litterarum, auf der allgemeinen geistigen und literarischen Struktur
   einer Epoche.“ [63] Zur Erfassung dieser „geistigen und literarischen Struktur einer
   Epoche“ sollten neben biologischen und sozialen Bindungen des Autors weitere Faktoren
   des literarischen Lebens wie Publikum, poetische Theorie und Einfluss ausländischer
   Dichtungen untersucht und in ein umfassendes Tableau von Wirkungszusammenhängen integriert
   werden. Wären so die für alle kulturellen Produktionen gültigen „sozialpsychologischen
   Grundlagen“ ermittelt, könnten „höhere kulturpsychologische Gesetzmäßigkeiten“ ergründet
   und zu einer überzeugenden Periodisierung vorgedrungen werden. [64] – Neben den an
   Lamprechts Kulturgeschichte orientierten Varianten sozialhistorischer Literaturbetrachtung
   formierte sich in der vom Anglisten Levin L. Schücking (1878-1964) begründeten „Soziologie
   der literarischen Geschmacksbildung“ (München 1923, revidiert 31961) ein Forschungsprogramm,
   das eine Publikumssoziologie unter besonderer Berücksichtigung von Produktions- und
   Distributionsbedingungen anbot und übergreifende Anerkennung fand. In der 1929 veröffentlichten
   Untersuchung Die Familie im Puritanismus setzte Schücking diese theoretischen Überlegungen
   am konkreten historischen Beispiel um: Von den sozialen Hintergründen der Familientheokratie
   im England des 17. Jahrhunderts ausgehend, wies er ihren Einfluss auf den Roman der
   Folgezeit anhand puritanischer Hauszuchtbücher nach. – Dem in kultur- und literarhistorischen
   Arbeiten Franz Mehrings und anderer marxistischer Theoretiker entwickelten Programm
   einer materialistischen Literatursoziologie gelang es dagegen nicht, den Zirkel der
   universitären Wissenschaft zu beeinflussen. [65] Während in der Sowjetunion das marxistische
   Basis-Überbau-Modell seit den 1930er Jahren zu einem kanonisierten Deutungsmuster
   aufstieg (und später auch die Literaturwissenschaft in der DDR prägen würde), entsann
   man sich in der Bundesrepublik erst seit den 1960er Jahren und dem Ende einer werkimmanenten
   Abstinenz auf sozialgeschichtliche Verfahren, die nun zu einflussreichen Forschungsprogrammen
   avancieren sollten.
Die weitgehende Erfolg- und Folgenlosigkeit sozialhistorischer Ansätze in der Literaturforschung
   der ersten Jahrhunderthälfte erklärt sich zum einen aus den konzeptionellen und methodischen
   Defiziten der gerade als Universitätsfach etablierten Soziologie: Die noch junge Disziplin
   vermochte es nicht, plausible Modelle für eine soziologisch bzw. sozialgeschichtlich
   fundierte Beschreibung und Erklärung des Zusammenhangs von Gesellschaft und literarischer
   Kommunikation bereitzustellen. Andererseits verhinderte das geisteswissenschaftliche
   Selbstverständnis der universitären Literaturforschung und die Orientierung an einer
   idealistischen Werkästhetik die unvoreingenommene Aufnahme materialistischer Anläufe.
   Auch die Anstöße für eine Thematisierung sozialer und politischer Determinanten der
   Literatur, die von fachexternen und gleichsam undisziplinierten Forschern kamen, verhallten
   zumeist ungehört: Neben dem Staatsrechtler Carl Schmitt – der 1919 sein Buch Politische
   Romantik veröffentlichte, das in Anlehnung an den französischen Soziologen Taine und
   Seillière die romantische Bewegung als Formation der wurzellosen bürgerlichen Intelligenz
   definierte und deren „subjektivierten Occasionalismus“ mitsamt seiner ästhetisch motivierten
   Auflösung ontologischer Fundamente als Paradigma der Moderne beschrieb – sorgte der
   Wissenssoziologe Karl Mannheim für die Begründung einer modernen Intellektuellen-Geschichte,
   wurde aber wie Schmitt nur begrenzt wahrgenommen. Georg Lukács (1885-1971), der sich
   unter dem Einfluss des Marxismus zu einem materialistischen Kulturtheoretiker entwickelte,
   strebte nach seinen frühen Schriften Die Seele und die Formen (Budapest 1910; deutsch
   Berlin 1911) und Die Theorie des Romans (Berlin 1920) eine historisch-soziologischen
   Analyse künstlerischer und insbesondere literarischer Manifestationen und Prozesse
   an. Der im 1923 veröffentlichten Werk Geschichte und Klassenbewusstsein im Anschluss
   an Marx’ Hegelauslegung gewonnene Begriff der „Verdinglichung des Bewusstseins“ sollte
   später wichtige geistige Bewegungen wie die „kritische Theorie“ der Frankfurter Schule
   und die Wissenssoziologie beeinflussen. Noch später sollten die literaturtheoretischen
   wie literaturgeschichtlichen Überlegungen Walter Benjamins (1892-1940) seine Sprengkraft
   entfalten: Der mit der Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik
   in Bern promovierte Germanist versuchte sich mit der Abhandlung Ursprung des deutschen
   Trauerspiels 1925 an der Universität Frankfurt zu habilitieren, wurde aber unter unwürdigen
   Umständen zurückgewiesen. Das Werk konnte erst 1928 bei Rowohlt in Berlin erscheinen;
   seine eigentliche Wirkungsgeschichte begann – nachdem es der in Adornos Frankfurter
   Benjamin-Seminar ausgebildete Wilhelm Emrich in seiner 1934 erschienenen Dissertation
   Paulus im Drama fruchtbar aufgenommen hatte – jedoch erst unter gänzlich veränderten
   Konstellationen in der Bundesrepublik.
Schon jetzt kann darauf hingewiesen werden, dass die keimhaften sozialhistorischen
   Ansätze die Veränderungen innerhalb der universitär professionalisierten Literaturwissenschaft
   nach der Zäsur des Jahres 1933 nicht überleben sollten. Obwohl unmittelbar nach der
   NS-Machtübernahme programmatische Äußerungen eine soziologische Ausrichtung der Literaturwissenschaft
   forderten, schwanden soziologische oder sozialgeschichtliche Fragestellungen fast
   gänzlich aus dem Spektrum der Forschung. Denn trotz der postulierten Konzentration
   auf „völkische“ Dimensionen von Literatur mangelte es an empirischen Parametern und
   deskriptiven Verfahren; der Rückgang auf einen mythisierten Begriff des Volkes, der
   nicht mehr auf eine Sprach- oder Kulturgemeinschaft, sondern auf eine vorsprachliche
   „Einheit des Blutes“ rekurrierte, machte soziologisch bzw. sozialwissenschaftlich
   fundierte Forschungen zum literarischen Leben und Produktionsprozess weitgehend unmöglich
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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