Arbeitsfelder und Darstellungsformen
Neuere wissenschaftshistorische Untersuchungen haben gezeigt, dass Arbeitsfelder und
Darstellungsformen der Literaturforschung in Deutschland auch unter den Bedingungen
der NS-Diktatur eine gewisse Kontinuität wahrten: Philologische Grundlagensicherung
in Form editorischer Texterschließung und –bereitstellung blieb der universitären
Germanistik im „Dritten Reich“ wie schon in der Weimarer Republik ein vernachlässigbares
Terrain; favorisiert wurden weiterhin großräumige „Wesensbestimmungen“ und Übersichtsdarstellungen,
die – nach 1945 mehrfach wiederaufgelegt – Wissensstand und Problemstellungen konservierten
und z.T. bis in die 1960er Jahre bestimmen sollten. [77] Einer in den 1910er und 1920er
Jahren vorbereiteten Tendenz folgend, verschob sich der Schwerpunkt literaturwissenschaftlichen
Arbeitens weiter von der philologischen Analyse zur Synthese, von der Forschung zur
Darstellung, von der Arbeit am Detail zur Produktion von Sinnzusammenhängen. Die Ursachen
dieser Bewegung waren fachinterner wie wissenschaftsexterner Natur: Wie in der antipositivistischen
Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts versprachen synthetische Gesamtdarstellungen
eine sinnvolle Ordnung der expandierenden literarhistorischen Detailkenntnisse und
die Befriedigung kultureller Orientierungsbedürfnisse. Das von Wilhelm Dilthey begründete
Programm einer umfassenden „Geistesgeschichte“, von der nachrückenden Wissenschaftlergeneration
seit etwa 1910 entfaltet, prägte die öffentlichkeitswirksamen „Synthesen“ über die
politische Zäsur des Jahres 1933 hinaus, ohne dass es zu deren durchgreifender Ideologisierung
kam. Erst die zu Beginn der 1940er Jahre von unterschiedlichen Ausgangspunkten einsetzende
Wendung zum „Werk“, deren Grundlagen und Folgerungen später noch genauer zu beleuchten
sind, führte zu einer Ablösung umfassender „Synthesen“ durch auf Einzeltexte fokussierte
„Interpretationen“.
Der nach 1933 weiterwirkende Prestigeverlust von Überlieferungserschließung und -sicherung
hatte fatale Folgen. Historisch-kritische Gesamtausgaben wurden zunächst überhaupt
nicht und nach 1939 mit propagandistisch verwertbaren Zielstellungen in Angriff genommen;
begonnene Editionen (Eichendorff, Görres, Jean Paul, Stifter, Wieland) führte man
zumeist nur schleppend weiter. Wissenschaftlich nutzbare Studienausgaben waren selten;
Recherche und Auswertung unpublizierter Quellen bildeten die Domäne einzelner akribischer
Forscher. Der erwähnte Hang zur „Synthetisierung“ wirkte sich auch auf ein groß angelegtes
Editionsvorhaben aus, das noch in der Zeit der Weimarer Republik begonnen worden war
und im „Dritten Reich“ seine vielseitige Blüte erlebte, bevor es – nach Zerstörung
der Verlagsstadt Leipzig – in der Nachkriegszeit eingestellt wurde: Das verlegerische
Großprojekt „Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen“ aus dem Verlag Philipp Reclam
mit epochen- und themenspezifisch gegliederten Textsammlungen von der Mystik bis zum
Realismus brachte es auf immerhin 110 Bände. Schon 1929 hatte der Leipziger Reclam-Verlag
die im Jahr 1928 von Hermann Böhlaus Nachf. und dem Österreichischen Bundesverlag
begonnene und auf 300 Bände berechnete Reihenedition übernommen, die die vom Positivismus
des 19. Jahrhunderts geprägte Sammlung Kürschners Nationalliteratur ablösen sollte.
Die Leitung des Großprojekts teilten sich anfänglich Walther Brecht, Dietrich von
Kralik und Heinz Kindermann; nach seiner Zwangsemeritierung 1937 erschien Walther
Brecht nicht mehr auf den Titelblättern. Namhafte Universitätsgermanisten, aber auch
Repräsentanten der nationalsozialistischen Kulturpolitik wie der „Reichsdramaturg“
Rainer Schlösser verpflichteten sich zur Erstellung breit angelegter Text-Kompilationen,
die mit umfänglichen Einleitungen und Erläuterungen einen repräsentativen Querschnitt
durch die deutsche Literatur bieten sollten. Die Realisierung des ehrgeizigen Projekts
erwies sich jedoch als schwierig und nur partiell erfolgreich. Die auf 20 Bände veranschlagte
Reihe „Klassik“ (Herausgeber Emil Ermatinger), die Reihe „Irrationalismus/ Sturm und
Drang“ (20 Bände geplant, Herausgeber Heinz Kindermann) und die Reihe „Eroberung der
Wirklichkeit“ (40 Bände geplant, Herausgeber Heinz Kindermann) wurden kaum begonnen.
Andere Reihen wie „Ältere Mystik“ (5 Bände geplant, Herausgeber Josef Quint), „Neuere
Mystik und Magie“ (7 Bände geplant, Herausgeber Hans Ludwig Held), „Erneuerung des
griechischen Mythos“ (5 Bände geplant, Herausgeber Wolfgang Schadewaldt), „Nationalpolitische
Prosa von der Französischen Revolution bis zur deutschen Erhebung“ (6 Bände geplant,
Herausgeber Rainer Schlösser) blieben Projekt. Abgeschlossen wurden dagegen die Reihen
„Barocklyrik“ (3 Bände, Herausgeber Herbert Cysarz), „Barockdrama“ (6 Bände, Herausgeber
Willy Flemming), „Aufklärung“ (15 Bände, Herausgeber Fritz Brüggemann) und „Romantik“
(24 Bände, Herausgeber Paul Kluckhohn). Band 1 der Reihe „Romantik“ – Ende 1943 gesetzt,
während des Luftangriffs auf Leipzig im Dezember 1943 zerstört und trotz Kluckhohns
Engagements vor der Einstellung der Verlagstätigkeit im August 1944 nicht wiederhergestellt
– erschien 1950 im neuen Verlagsort Stuttgart und markierte das Ende der Textsammlung.
Die aufgrund des beispielhaften Engagements von Paul Kluckhohn abgeschlossene Reihe
„Romantik“ demonstriert zugleich, welch ambivalente Gestalt das Editionsgeschäft unter
den Bedingungen politischer Zwänge aufwies: Während der 1933 veröffentlichte Band
7 den Roman Florentin von Moses Mendelssohns Tochter Dorothea Veit enthielt (und damit
den ersten Neudruck seit seiner Erstausgabe 1801 bot), durfte ein von Josef Körner
aufgefundenes und zum Druck vorbereitetes Notiz-Heft von Friedrich Schlegel nach der
NS-Machtübernahme nicht erscheinen – in Rücksicht auf die nun herrschenden Verhältnisse
strich Hauptherausgeber Kindermann es aus dem Programm (Klausnitzer 1999, S. 534f.).
– Auch prestigeträchtige Gesamtausgaben stützten sich auf eingeführte Vorläufer. Zu
ihnen zählen u.a. die Mainzer Welt-Goethe-Ausgabe (die unter Leitung von Anton Kippenberg,
Julius Petersen und Hans Wahl ab 1937 als verbesserte Neuauflage der Weimarer Sophie-Ausgabe
mit wesentlich vereinfachtem Apparat erschien) und die durch Benno von Wiese 1936/37
im Leipziger Bibliographischen Institut besorgte Schiller-Ausgabe in 12 Bänden.
Im Blick auf das Genre der literaturgeschichtlichen Gesamtdarstellung lässt sich eine
fortlaufende Diskrepanz zwischen Erwartung und Einlösung feststellen. Trotz mehrfach
artikulierter Hoffnungen seitens des politischen Systems und vielfältiger Bemühungen
durch universitäre und außeruniversitäre Philologen blieb eine kanonische Literaturgeschichte
im nationalsozialistischen Sinne aus. Bis in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre die
ersten für NS-Deutschland verfassten Literaturgeschichten erschienen, behalf man sich
mit einem (mehrfach beklagten) Rückgriff auf ältere Werke, die teilweise noch aus
dem 19. Jahrhundert stammten. Die ab 1937 erscheinenden literaturgeschichtlichen Gesamtdarstellungen
vermochten die „dringende und in letzter Zeit oft erhobene Forderung nach einem Gesamtbild
unserer Dichtungsgeschichte aus nationalsozialistischem Geist“ [78] jedoch nur partiell
zu bedienen. Eine politisch konforme und vom Wissenschaftssystem rückhaltlos anerkannte
Geschichte der deutschen Literatur boten weder Hellmuth Langenbuchers vom Standpunkt
des völkischen Agitators verfasster Abriss Deutsche Dichtung in Vergangenheit und
Gegenwart (Berlin 1937) noch Franz Kochs Geschichte deutscher Dichtung (Hamburg 1937,
2. erw. Aufl. 1938, 3. erw. Aufl. 1940, 4. erw. Aufl. 1941, 51942, 61943, 71944).
Walther Lindens Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart
(Leipzig 1937; 2. erw. Auflage 1940; 3. durchges. Aufl. 1941), Josef Nadlers Literaturgeschichte
des deutschen Volkes und Paul Fechters neu bearbeitete Geschichte der deutschen Literatur
(Berlin 1941) trafen auf mehr oder weniger explizit artikulierte Kritik. Während das
Werk des Berliner Ordinarius Franz Koch im Völkischen Beobachter als „Spitzenleistung
nationalsozialistischer Forschungsarbeit“ [79] gelobt wurde, doch allein in den Zeitschriften
der Deutschkunde-Bewegung wohlwollende Besprechungen erntete, gingen die Fachkollegen
zum vollmundigen Pathos des akademischen Außenseiters Walther Linden deutlicher auf
Distanz. Auch die „völlig neu bearbeitete“ stammesethnographische Literaturgeschichte
Josef Nadlers konnte sich nicht als gültige Geschichte der deutschen Literatur etablieren.
Besonderes Misstrauen seitens politischer Observanten erntete schließlich die von
katholischem Standpunkt aus verfasste Geschichte der deutschen Seele des Münsteraner
Ordinarius Günther Müller, der in der Literaturentwicklung von früher Neuzeit bis
ins 19. Jahrhundert einen „deutsch-gotischen Grundzug“ wirken sah. [80] Während Fachkollegen
anerkennend reagierten, war Müller den „Gegnerforschern“ im Sicherheitsdienst der
SS ein besonderer Dorn im Auge: Im SD-Bericht Lage und Aufgaben der Germanistik und
deutschen Literaturwissenschaft von 1938/39 erschien er als „katholischer Exponent
in der Germanistik“ und „besonders gefährlich“ (Simon 1998, 11, 13); 1943 wurde er
unter Gewährung eines Forschungsstipendiums in den Ruhestand versetzt und gezwungen,
Münster zu verlassen (Heiber 1991, 724-729).
Trotz ihrer Differenzen stimmten die zwischen 1933 und 1945 vorgelegten Literaturgeschichten
in zwei fundamentalen Zielstellungen überein: Zum einen in der expliziten Intention,
eine Kontinuität der Literaturentwicklung von der germanischen Heldenepik bis in die
„volkhafte Dichtung der Gegenwart“ herauszuarbeiten und auf (biologische) Eigenschaften
personaler Urheber zurückzuführen; zum anderen in der gleichfalls offen erklärten
Absicht, weltanschaulich und volksgemeinschaftlich formierende Funktionen zu übernehmen.
Eine in ihrer Tragweite kaum zu überschätzende Konsequenz hatten diese Zielstellungen
für Darstellung und Erklärung des literarischen Entwicklungsprozesses: Da die Berücksichtigung
länder- und kulturenübergreifender Einwirkungen als „wissenschaftliche Irrlehre“ galt,
figurierten gesamteuropäische Phänomene wie Barock, Romantik oder der Realismus des
19. Jahrhunderts als „dichterische Ausprägungen, wie sie nur der deutsche arthafte
Geist schaffen konnte“. [81] Wenn „fremdartige“ Einflüsse auf die Literaturentwicklung
thematisiert wurden, geschah es nicht sachlich, sondern mit dezidiert feindseliger
Wertung: So galten beispielsweise in der Behandlung der „Goethezeit“ Juden, namentlich
die in den Berliner Salons wirkenden Jüdinnen Henriette Herz, Dorothea Veit und Rahel
Levin mit ihrem „noch gar nicht abzuschätzenden Einfluß auf das deutsche Schrifttum“
als verantwortlich für die irritierenden Züge der Romantik; „literatenhafte Haltung“
und „geistiges Rentnertums“ wurden ihrem Wirken zugeschrieben. [82]
Detailuntersuchungen und Einzeldarstellungen zu Autoren und ihren Werken blieben weiterhin
vielfältig und in ihrer konzeptionellen wie methodischen Ausrichtung plural. Massiv
drangen politisch induzierte Deutungs- und Wertungskriterien dann in die Literaturforschung
ein, wenn sich ihre Betreiber als überzeugte Nationalsozialisten verstanden bzw. die
staatstragende Ideologie zur Karriereförderung zu nutzen suchten – etwa im Fall des
von Karl Goedeke 1856 begonnenen, 1928 von der Deutschen Kommission der Preußischen
Akademie der Wissenschaften übernommenen und seit 1938 unter Leitung von Georg Minde-Pouet
fortgeführten Kompendiums Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Die geplante
„Neue Folge“ des bio-bibliographischen Unternehmens sollte, den von Franz Koch entworfenen
„neuen Grundsätzen“ folgend, im Gegensatz zur bisherigen chronologischen Anordnung
die Autoren nun in alphabetischer Reihenfolge aufführen; ein später zu erstellender
Einleitungsband sollte „eine zusammenfassende geistesgeschichtliche Darstellung unter
Berücksichtigung der Landschaften und Stämme, der Rasse usw.“ liefern. [83] Eine „besondere
Aufgabe der neuen Bände“ sei es, „den Einfluss des Judentums auf die deutsche Literatur
seit 1830 darzustellen“ – sowohl „in jeder Biographie des chronologischen Teils“ wie
in der zusammenfassenden Darstellung des Einleitungsbandes, „hier namentlich auch
mit Bezug auf Presse, Zeitschriften, Literatur u.a.“ [84] Während die Akademie hinsichtlich
der Stigmatisierung von Sekundärliteratur taktierte, bestand die Parteiamtliche Kontrollkommission
auf der Kennzeichnung auch von Autoren von Sekundärliteratur mit dem Zusatz „JD“ und
der Erwähnung ihrer „jüdischen Vermischung oder Versippung“. [85] Zugleich lehnte
sie die Aufnahme der von Robert F. Arnold in jahrzehntelanger Arbeit erstellte Anzengruber-Bibliographie
mit der Begründung ab, es könne nicht angehen, „daß in irgendeiner Weise auf der Arbeit
des Juden Professor Arnold gefußt wird“. [86] Der in diesen Planungen virulente Antisemitismus
als unmittelbare Konkretisation der nationalsozialistischen Rassendoktrin hatte in
der deutschen Literaturwissenschaft schon vorher seine willigen Propagandisten gefunden.
Unter den 15 erstberufenen Mitgliedern der Forschungsabteilung Judenfrage des Reichsinstituts
für Geschichte des neuen Deutschlands befanden sich mit Franz Koch und Johannes Alt
zwei Ordinarien für deutsche Literaturgeschichte, die als exponierte Parteigänger
des Regimes nach 1933 Lehrstühle erhalten hatten. Hochschullehrer wie Karl Justus
Obenauer betreuten Dissertationen mit unmissverständlichen Wertungen; [87] Doktoranden
wie Elisabeth Frenzel suchten sich entsprechende Themenstellungen selbst. [88] Wie
noch zu zeigen sein wird, blieben diese Einsätze trotz ihrer Assimilation an rassentheoretische
Versatzstücke aus dem Ideenhaushalt der Nationalsozialisten in den Grenzen ihrer ideologischen
Voraussetzungen befangen und vermochten es nicht, innerhalb des weiterhin divergierenden
Methodenspektrums eine dominierende Rolle zu übernehmen. Die professionalisierte Literaturforschung,
schon in den 1920er Jahren stammes- und rassenkundlichen Erklärungsmustern reserviert
gegenüberstehend, richtete sich entgegen verbaler Absichtserklärungen und diverser
Anläufe nicht nach einem verbindlichen Paradigma aus; eine „biologische Literaturbetrachtung“,
die dezidiert die Frage nach Erbanlagen und „rassischer Herkunft“ der Autoren in den
Mittelpunkt stellte, wurde nicht von einem Mitglied der scientific community, sondern
von dem fränkischen Studienrat Ludwig Büttner projektiert. [89] Weitgehend erfolglos
blieben auch die Versuche außerdisziplinärer Dilettanten, das Interesse der staatstragenden
Partei und ihrer Führer an der germanischen Vor- und Frühgeschichte für ihre Zwecke
zu nutzen: Die angeblich altfriesische Ura-Linda-Chronik, vom deutsch-holländischen
Privatgelehrten Herman Wirth gegen den Einspruch disziplinärer Gelehrter als Beleg
für die These von der Existenz einer „arktisch-atlantischen Urheimat“ der indoarischen
Stämme verteidigt, wurde nochmals 1934 öffentlich und unter reger medialer Anteilnahme
als ein dem 19. Jahrhundert entstammendes Plagiat erwiesen. Auch die (von der SS alimentierte)
Suche nach den Gralsburgen endete ohne Ergebnis.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
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Arbeitsfelder und Darstellungsformen
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