Universitäre Literaturforschung und ihre Alternativen
Als um 1810 die ersten Universitätsprofessuren für die Erforschung und Vermittlung
   der deutschen Literatur eingerichtet wurden, konzentrierten sich deren Inhaber auf
   die Ermittlung und Sammlung, die kritische Behandlung und die Edition von „altdeutschen“
   Texten. Die spezialisierte Behandlung von nicht mehr gesprochenen Varianten der germanischen
   Sprachen und deren Literatur folgte dem Vorbild der Klassischen Philologie, die als
   eine bis in die Antike zurückreichende Wissenschaft nicht nur „ältere Schwester und
   Lehrerin“ [3] der neueren Philologien war, sondern auch deren (bis Ende des 19. Jahrhunderts
   nahezu übermächtige) Konkurrentin: Sie verfügte über Begriffe und Methoden zur kritischen
   Behandlung von Texten, besaß in der von Christian Gottlob Heyne und Friedrich August
   Wolf begründeten Lehrform des Seminars eine effektive Form zur Vermittlung ihrer Verfahren
   und erbrachte mit der Ausbildung von Lehrern für das humanistische Gymnasium eine
   Leistung, die gesellschaftliche Anerkennung fand. (Erst 1831 sollte das neue preußische
   Reglement für die Prüfungen der Candidaten des höheren Schulamts im philologischen
   Fach spezifische historische Kenntnisse und wissenschaftliche Bildung im Deutschen
   als unabdingbar für die Erteilung der facultas docendi festlegen – bis dahin genügte
   die Kenntnis der alten Sprachen und Literatur. Eine dauerhafte Aufwertung des schulischen
   Deutschunterrichts erfolgte noch später: Nachdem die Lehrplanfestlegungen 1891 und
   1901 den „Unterricht im Deutschen“ zwar als den „ethisch bedeutsamsten in dem Organismus
   unserer höheren Schulen“ ausgezeichnet, doch keine erhöhte Stundenzahl festgelegt
   hatten, verdrängten die „Deutschkunde“-Fächer Literatur, Geschichte, Erdkunde erst
   in den 1920er Jahren die alten Sprachen endgültig von ihrer Spitzenposition.)
Die Orientierung an den methodischen Prinzipien der Klassischen Philologie ließ eigene
   methodologische Überlegungen als nicht notwendig erscheinen, war man doch davon überzeugt,
   „daß für das gründliche Studium unserer alten vaterländischen Litteratur nichts erspriesslicher
   seyn kann, als wenn wir uns die genaue critische Sorgfalt zum Muster nehmen, die man
   mit so vielem Scharfsinn und unermüdet fortgesetztem Fleisse auf die Schriften der
   Griechen und Römer verwandt hat.“ [4] Die immer wieder beschworene „genaue critische
   Sorgfalt“ diente einer anfänglich kleinen Gruppe von Gelehrten – ihr Kern bestand
   zunächst nur aus Georg Friedrich Benecke (1762-1844), dessen Schüler Karl Lachmann
   (1793-1851) und den mit ihnen befreundeten Brüdern Jacob Grimm (1785-1763) und Wilhelm
   Grimm (1786-1759) – zur Abgrenzung von anderen, in der Zeit nach 1800 ebenso möglichen
   Textumgangsformen. War es im 18. Jahrhundert vor allem darum gegangen, die vergessene
   mittelalterliche Literatur breiteren Leserschichten nahe zu bringen (was etwa Johann
   Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger bewog, in ihrer 1759 erschienenen Sammlung
   von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte CXL Dichter enthaltend einen nur
   auf Popularisierung bedachten mangelhaften Abdruck der handschriftlichen Fassungen
   zu liefern), bildeten sich unter dem Einfluss der romantischen Bewegung divergierende
   Varianten der Beschäftigung mit der literarisch-kulturellen Überlieferung aus:
(a) Zu „Urkunden des menschlichen Geistes“ erklärt, sollten literarische Texte in
   das „innerste Teil der Geschichte“ führen und einen privilegierten Zugang zur ideellen
   Konstitution der Nation eröffnen. „Durch Bekanntschaft mit der Literatur eines Volkes
   lernen wir seinen Geist, seine Gesinnung, seine Denkungsart, die Stufe seiner Bildung,
   mit einem Wort sein eigentümliches Sein und Wesen kennen, wir erhalten eine Charakteristik,
   die wir anderswo vergebens suchen würden“, postulierte Friedrich Schlegel in seinen
   Pariser Vorlesungen über die Geschichte der europäischen Literatur 1803/04. [5] Poetische
   Denkmäler ließen sich so in übergreifende historische Perspektiven einbinden bzw.
   als integrale Bestandteile einer sinn-vollen Entwicklungsgeschichte darstellen. Verwirklicht
   wurde dieses Programm schon in den Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, die
   August Wilhelm Schlegel 1801/04 in Berlin hielt, in den Pariser Lektionen seines Bruders
   Friedrich Schlegel sowie in dessen Wiener Vorträgen Geschichte der alten und neuen
   Litteratur von 1812-15, denen noch Heinrich Heine das Kompliment machte, dass er „kein
   besseres Buch dieses Fachs“ kenne. [6]
(b) Literarische Texte konnten als Zeugnisse einer vergangenen Lebensweise verstanden
   und dem Kenntnisstand der zeitgenössischen Leser angepasst aufbereitet und verbreitet
   werden. So demonstrierten es Achim von Arnim und Clemens Brentano mit der Lieder-
   und Gedichtsammlung Des Knaben Wunderhorn, an deren dritten Band die Brüder Grimm
   mitwirken sollten. Die Accomodation der mittelhochdeutschen Überlieferung an den Verständnishorizont
   gegenwärtiger Rezipienten prägte auch die Nibelungenlied-Ausgaben des Juristen und
   Privatgelehrten Friedrich Heinrich von der Hagen, der 1810 auf die Stelle eines außerordentlichen
   Professors für Deutsche Sprache und Literatur an der neu gegründeten Berliner Universität
   berufen wurde und mit einer vierbändigen Anthologie mittelhochdeutscher Lyrik sowie
   einer dreibändigen Sammlung mittelhochdeutscher Verserzählungen zur Begründung der
   mediävistischen Germanistik beitrug.
(c) Texte ließen sich aber auch als Sprachdenkmale begreifen, die mit den Verfahren
   der philologischen Kritik zu bearbeiten waren, um einen authentischen Wortlaut für
   die nachfolgende Interpretation herstellen zu können. Eine so motivierte Textkritik
   avancierte zum grundlegenden Verfahren im professionalisierten Umgang mit der schriftsprachlichen
   Überlieferung. Ihre regelgeleiteten Schritte belegen, welche Investition von Zeit
   und Aufmerksamkeit die klassische wie die sich langsam ausbildende deutsche Philologie
   verlangten.
© Ralf Klausnitzer / Letzte inhaltliche Änderung am: 25.11.2007
   
   
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