Philologie

Philologie als professionalisierte „Liebe zum Wort“ bzw. „Liebe des Wortes“ umfasst weit mehr als die editorische Erstellung gesicherter Texte. Um schriftsprachliche Überlieferungen zugänglich zu machen, waren (und sind) ihre vorliegenden Zeugnisse zu ermitteln, Regeln für die Konstitution eines zuverlässigen Textes abzuleiten und die so eingerichteten Texte in allen für ihr Verständnis relevanten Aspekten zu untersuchen. Gleichwohl bestand und besteht eine zentrale Verpflichtung der „Liebe zum Wort“ in der Sicherung materialer Grundlagen jedes Umgangs mit Literatur. Der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts institutionalisierende Umgang mit Literatur im Rahmen universitärer Wissenskulturen folgte mit seinen Prozeduren einer solchen Grundlagensicherung den Vorgaben der (auch in dieser Hinsicht) Klassischen Philologie: Um eine gesicherte Basis für die Forschung und also einen gültigen Text herzustellen, mussten zuerst die Prozesse seiner Überlieferung – mündlich, handschriftlich und/ oder gedruckt – rekonstruiert werden. Dazu waren alle auffindbaren Textzeugen (Abschriften oder Drucke eines Werkes bzw. alles, was den vollständigen oder auch fragmentarischen Text des Werkes enthielt) zu sammeln und die Hauptüberlieferung von der Nebenüberlieferung (Textspuren wie Zitate, Auszüge, Paraphrasen, Übersetzungen u.ä.) in anderen Werken zu trennen. Je mehr Textzeugen sich ermitteln ließen, desto größer war die Anzahl der zu berücksichtigenden Varianten – bei den durch Abschreiben vervielfältigten Texten des Mittelalters ebenso wie bei den durch fehlerhafte Raubdrucke vermehrten Jugendwerken Johann Wolfgang Goethes, deren „offenbare Verderbnisse“ Michael Bernays 1866 nachwies und damit die neuphilologische Textkritik begründete. [7] Die Sicherheit eines kritisch rekonstruierten Textes hing davon ab, wie genau die Varianten differenziert werden konnten. Da Schriftstücke aus der Antike oder aus dem Mittelalter in der Regel nicht in Autorhandschriften oder in auktorial gebilligten Textträgern vorlagen, sondern in Jahrzehnte oder Jahrhunderte später entstandenen Abschriften, richtete sich das besondere Interesse der altphilologischen Textkritik darauf, aus der überfremdeten Überlieferung den verlorenen ursprünglichen Autortext wiederherzustellen bzw. sich diesem so weit wie möglich anzunähern. Die Abhängigkeiten der unterschiedlichen Textträger untereinander waren zu ermitteln und in Form eines Überlieferungsstammbaumes (Stemma) zu dokumentieren, um schließlich die zuverlässigste unter den überlieferten Handschriften als Leithandschrift des Textes bzw. maßgeblichen Repräsentanten des Werkes zu bestimmen. Die neuphilologische Textkritik konzentrierte sich dagegen auf die Erschließung und Darstellung der primären Textgeschichte, also auf die Herstellung und Veränderung von Texten durch Autoren bzw. Verlagsinstanzen und sonderte dazu primäre (vom Autor stammende) und sekundäre (nicht vom Autor stammende) sowie autorisierte (vom Autor als gültig erklärte) und nicht autorisierte Varianten. Zudem wurde zwischen aktiver und passiver Autorisation unterschieden; je nachdem, ob eine Veränderung der Textgestalt dem Willen des Autors entsprach oder vom Urheber unbemerkt in einen autorisierten Druck gelangte bzw. von diesem gebilligt, aber nicht vorgenommen wurde. – Übereinstimmendes Ziel beider Verfahren war die Absicht, die Korruptelen, d.h. die durch fehlerhaftes Abschreiben oder nicht autorisierte Nachdrucke entstandenen Verderbnisse des Textes zu beseitigen. Die sichere Korrektur (Emendation) stellte den richtigen Text wieder her; eine Konjektur gab eine argumentativ begründbare Vermutung über den richtigen Text an, wenn eine Stelle nicht eindeutig zu korrigieren war.
Die Ergebnisse einer so fundierten Behandlung von Texten waren beeindruckend. Der seit 1825 als Professor für deutsche und klassische Philologie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lehrende Karl Lachmann applizierte das altphilologische Editionsverfahren auf verschiedene Textkorpora und schaffte es – trotz der nicht unproblematischen stemmatischen Voraussetzung seiner Methode, die eine nicht-kontaminierte Überlieferung mittelalterlicher Texte annahm – wissenschaftlich verwendbare Ausgaben antiker Autoren, des Neuen Testaments und schließlich auch von Texten der neueren Literatur herzustellen. 1826 erschien seine Ausgabe Der Nibelunge Noth mit der Klage in der ältesten Gestalt, die in der zweiten Auflage den charakteristischen Nebentitel „Nach der ältesten überlieferung mit bezeichnung des unechten und mit den abweichungen der gemeinen lesart“ erhielt und bis zu Karl Bartschs auf der Handschrift A beruhenden Ausgabe von 1870 ohne Konkurrenz blieb. (Im Mai 1816 hatte Lachmann seine Probevorlesung Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts von der Nibelungen Noth gehalten und damit als erster Habilitand über ein altdeutsches Thema gesprochen. Mit dieser von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum ausgehenden Untersuchung begann „die im eigentlichen Sinne wissenschaftliche Erforschung der älteren deutschen Literatur“ (Stackmann 1979). Gemeinsam mit Georg Friedrich Benecke erstellte Lachmann 1827 eine Ausgabe des Iwein von Hartmann von Aue, die – insbesondere in der zweiten Auflage von 1843 – zum Vorbild der nachfolgenden germanistischen Editionsphilologie wurde; die gleichfalls 1827 veröffentlichte Edition der Gedichte Walthers von der Vogelweide berücksichtigte erstmals die gesamte handschriftliche Überlieferung und leitete die moderne Walther-Philologie ein. [8] 1831 folgte Lachmanns editio minor des Neuen Testaments, an die sich eine zweibändige editio maior anschloss; [9] zwischen 1838 und 1840 gab der Philologe eine 13bändige Lessing-Ausgabe heraus und setzte damit einen Maßstab für den Umgang mit neuerer Literatur. Sein Schüler und Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl Moriz Haupt (1808-1874) edierte u.a. Hartmann von Aues Erzähltexte Erec (1839) und Der arme Heinrich (1842), erklärte Ovids Metamorphosen (1853) und versorgte die Schüler des humanistischen Gymnasiums mit Cornelii Taciti Germania in usum scholarum recognita (1855). Moriz Haupt führte auch die von Lachmann begonnene Sammlung Des Minnesangs Frühling – eine kanonisch gewordene Auswahl von Minneliedern und Sangspruchdichtung – fort; seine 1858 publizierte Neidhart von Reuenthal-Edition ist die bis heute (wenn auch nicht unangefochten) gültige Textbasis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem wohl erfolgreichsten Liedautor des deutschen Mittelalters.

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