Literaturgeschichte

Im Vergleich mit der philologischen Thematisierung literarischer Texte fiel die Erfolgsbilanz des seit etwa 1835 an verschiedenen Universitäten aufgenommenen Faches „deutsche Literaturgeschichte“ deutlich ungünstiger aus. Die im deutschen Sprachraum durch August Wilhelm und Friedrich Schlegel begründete geschichtliche Perspektivierung literarischer Texte brachte in den Werken des Historikers Georg Gottfried Gervinus (1805-1871), des Literatur- und Kunsthistorikers Hermann Hettner (1821-1882) und des Philosophie- und Literaturhistorikers Rudolf Haym (1821-1901) zwar anerkannte Leistungen hervor, erfuhr vorerst jedoch weder Professionalisierung noch dauerhafte Etablierung. Als ein „von der Aristokratie der zunftmäßigen Facultätsstudien“ ausgestoßenes „Pariakind“ wurde die neuere deutsche Literaturgeschichte von Hermann Hettner beschrieben: „Keine einzige philosophische Facultät kümmert sich bei dem philosophischen Doctorexamen um neuere deutsche Litteratur. Keine einzige philosophische Facultät hat eine statutenmäßige ordentliche Professur für deutsche Litteraturgeschichte.“ [10] Dabei offerierten die oftmals sehr umfangreichen Darstellungen eine Alternative zur philologischen Beschränkung auf beobachtbare Tatsachen. Schon die 1830 veröffentlichte Geschichte der Deutschen Poesie im Mittelalter des Philosophen Karl Rosenkranz – er wurde 1833 auf den Lehrstuhl Immanuel Kants in Königsberg berufen, schrieb 1844 im Auftrag der Familie das Leben Hegels und legte 1853 eine bis heute grundlegende Ästhetik des Hässlichen vor – dokumentiert, welche Potentiale in der theoretisch angeleiteten Frage nach dem Sinn und dem Zusammenhang von Texten stecken. Ging es einer namentlich von Karl Lachmann präsentierten Wort-Philologie um die Rekonstruktion der sprachlichen Formung eines Textes, dessen Lautstand, Sprachstufe und lexikalische Besonderheit zu bestimmen war, zielte Rosenkranz’ „innere Geschichtsschreibung“ auf das „Ganze“ bzw. „die Anordnung, Eintheilung, Bewegung“ der literarischen Werke. [11] Deshalb stellte seine Literaturgeschichte nicht Autoren und Überlieferungslage, sondern Handlungs- und Kommunikationsformen literarischer Figuren in den Mittelpunkt. In Einzelanalysen des Nibelungenliedes, der Artusepen oder des Parzival eruierte er die in Texten niedergelegten Verhaltensweisen, die auf übergreifende Entwicklungen in Gesellschafts- und Gattungsgeschichte, Weltbild und Rechtsnormen bezogen wurden – und gelangte (nicht zuletzt geschult durch Hegels Ästhetik) zu eindringlichen und plausiblen Beschreibungen der mittelalterlichen Literatur, die Redeweisen ebenso ernst nahmen wie Handlungsregulative und Ordnungsmuster. Doch auf dieses Angebot einer kulturhistorisch erweiterten Erforschung der literarischen Kommunikation – ein „wissenschaftsgeschichtliches Ereignis allerersten Ranges“ (Weimar 1989, S. 306f.) – reagierten die Anwälte einer strengen Philologie mit harscher Zurückweisung. Als „dummes Zeug“ lehnte Lachmann die Darstellung zur Lyrik des Mittelalters durch Rosenkranz ab und distanzierte sich von einer philosophisch geleiteten Perspektivierung: „Mir ist ordentlich lächerlich, wie dünn und armselig diese Hegelianer werden, wenn sie über Sachen sprechen, die sie nicht in den Schraubstock ihrer Formeln nehmen können, und die sie wie unglückselige Einzelheiten ohne Zusammenhang nehmen.“ [12] – Angesichts dieser Abfuhr verwundert es nicht, dass literaturhistorische Beiträge (insbesondere zu neueren Entwicklungen) vor allem die Domäne von Historikern und Philosophen sowie von außeruniversitär wirkenden Publizisten blieben. Neben Heinrich Heine (der für das französische Publikum eine Übersichtsdarstellung der deutschen Literatur und Philosophie und der „romantischen Schule“ gab) und Heinrich Laube (der 1839/40 ganze Teile von Rosenkranz’ mediävistischer Poesiegeschichte wörtlich in seine Geschichte der deutschen Literatur übernahm, ohne die Entdeckung dieses Plagiats fürchten zu müssen), trugen vor allem der Geschichtsschreiber Gervinus und die von Hegel beeinflussten Literaturhistoriker Hettner und Haym zu einer philosophisch fundierten Modernisierung der Literaturgeschichtsschreibung bei (Ansel 2003). Wie stark geschichtsphilosophische Deutungsmuster und politische Erwartungshaltungen ihre literarhistorischen Verlaufsformen prägten, dokumentiert schon Gervinus’ fünfbändige Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen, die zwischen 1835 und 1842 in Leipzig erschien. Wesentlich für dieses Werk – wie für andere Literaturgeschichten nichtphilologischer Provenienz – war der Anspruch, im Gegensatz zur bibliographischen Verzeichnung von Wissensbeständen ein genetisches Konzept zu entwickeln: Die chronologische Darstellung der historischen Entwicklung (zumeist „von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart“) realisierte sich als Entfaltung eines Zusammenhanges, der in der Literaturgeschichte einen sinnhaften Prozess mit einem Ziel entdeckt hatte. Die Abfolge von Texten und ihren Autoren wurde zu einer „Sinn-Geschichte“, als deren Subjekt die Nation auftrat (Fohrmann 1994, 584f.). Hintergrund dieser „inneren Literaturgeschichte“ war die bereits von Herder formulierte und von Friedrich Schlegel aktualisierte Vorstellung, literarische Texte eröffneten den Zugang zum „Geist der Nation“ so direkt wie keine anderen (Weimar 1988, 15). Deshalb verzichtete Gervinus’ Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen auf eine Darstellung des ästhetischen Gehalts literarischer Texte und gab stattdessen eine Analyse ihrer historischen Bezüge und Funktionen. Literatur erschien als kulturelles Medium eines nationalen Formationsprozesses; die Aneignung dieser Tradition sollte dem deutschen Bürgertum zur Ausbildung einer eigenen Identität verhelfen. Um die Nähe der Literatur zum Leben der Nation herauszustellen, suchte Gervinus das „viele kleine Strauchwerk“ der Volksdichtung stärker zur Geltung zu bringen und literarischen Produktionen die Aura der Hochkultur zu nehmen. Wie massiv geschichtsphilosophische Annahmen die Modellierung prägten, zeigt vor allem seine Auffassung vom Ende der Literatur in der Gegenwart: Als Ersatz politischer Emanzipation habe Literatur nun ihren Zweck, die Heranbildung der Nation zur Vorstellung politischer Freiheit, erfüllt und müsse in eine durch praktisches Handeln herbeigeführte Emanzipationsbewegung des deutschen Bürgertums münden. – Als Synthese der intensiv rezipierten Philosophien Hegels und Feuerbachs trat auch Hermann Hettners sechsbändiges Hauptwerk Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts (Braunschweig 1856-70) in Erscheinung. Deren vierbändiger Hauptteil Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert wurde zwar noch zu Lebzeiten des Autors mehrfach revidiert; dennoch wirkt diese „Geschichte der Ideen und ihrer wissenschaftlichen und künstlerischen Formen“ aufgrund ihrer übergreifenden geistesgeschichtlichen Perspektive bis in die Gegenwart: Die Deutung der Aufklärung als literarische und philosophische Ideenbewegung in der Nachfolge von Reformation und Renaissance, die zugleich den Rahmen für Sturm und Drang und Weimarer Klassik bildete, fixierte ein noch heute geläufiges Periodisierungsschema. Und auch wenn sich viele Passagen als keine originalen Leistungen Hettners erwiesen und (wie etwa die von Schiller und den Frühromantikern übernommene Verzeichnung Wielands) überholt sind, ist zur Darstellung des Gesamtzusammenhangs und der zeitlichen Markierung des Aufklärungszeitalters seitdem nichts grundlegend Neues oder ganz Abweichendes hinzugekommen. – Der seit 1860 als Professor für Literaturgeschichte in Halle lehrende Rudolf Haym wurde vor allem für seine umfänglichen Monographien Herder nach seinem Leben und seinen Werken (2 Bde., 1877-85) und Die Romantische Schule (1870) berühmt. Seine Darstellung der romantischen Bewegung blieb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts von Bedeutung, prägte sie doch die Phaseneinteilung der Romantik und ihre Beurteilung, vor allem die höhere Wertschätzung der frühen gegenüber der späteren Romantik.
Doch wie erwähnt: Als primäre Form eines wissenschaftlich professionalisierten Umgangs mit literarischen Texten setzte sich ihre philologisch-kritische Behandlung durch. Deren Vertreter beharrten auf dem Anspruch, durch Ermittlung und Benennung beobachtbarer Tatsachen die Daseinsberechtigung ihrer noch jungen Disziplin unter Beweis zu stellen. Primärer Gegenstand blieben jene Texteigenschaften, die sich als faktisch beschreib- und rekonstruierbar erwiesen: Sprache, Metrik, Überlieferung. Eben deshalb galt die vorrangige Aufmerksamkeit der lautlichen und lexikalischen Form alt- und mittelhochdeutscher Texte, die hinsichtlich ihrer metrischen Gestalt, ihrer Stilform und Motivübernahme analysiert sowie unter Berücksichtigung ihrer Genese wie ihrer handschriftlichen Distribution verglichen wurden. In der Beschränkung auf empirisch ermittelbare Daten fand die deutsche Philologie ihren Weg in das sich ausdifferenzierende Hochschulsystem. Bis zum Ende der 1860er Jahre hatten nahezu alle Universitäten des deutsche Sprachraums ein Ordinariat für deutsche Sprache und Literatur eingerichtet; an einigen Hochschulen erhielt die deutsche Philologie sogar Doppelvertretungen (Meves 1994, 190-192). Philologisch orientiert war auch die Beschäftigung mit englischsprachiger Literatur und Texten der Romania, die sich in dieser Zeit institutionell etablierte. Die Errichtung der ersten Lehrstühle für Anglistik seit 1872 markiert den „Beginn der eigentlichen Geschichte als Fach“ (Finkenstaedt 1983, 4; dazu auch Christmann 1985, 23f., Haenicke 1979). Ihren Erfolg verdankten die universitär formierten Philologen nicht zuletzt jenen Arbeitsformen und -feldern, die eine wissenschaftlich professionalisierte Tätigkeit auf Dauer stellten: Neben der disziplinären Gemeinschaft von Experten, die sich von sammelnden Liebhabern und Amateurforschern durch spezialisierte Problemstellungen und homogenisierte Kommunikation unterschieden, entwickelten sie eine Ethik, die als „Andacht zum Unbedeutenden“ – zunächst pejorativ gegen die Pedanterie der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm gewendet – zur Formel für das wissenschaftliche Selbstverständnis nicht nur von Germanisten avancieren sollte (Kolk 1989, Kolk 1990, auch Kany 1987). Fachwissenschaftliche Publikationsorgane trugen zur Spezialisierung und weiteren Differenzierung bei: 1841 begründete Moriz Haupt die Zeitschrift für deutsches Altertum, die als ihre Gegenstände „die literatur, die sprache, die sitten, die rechtsalterthümer“ benannte und diese „wißenschaftlich“ behandelt wissen wollte; sie existiert noch heute und stellt so das älteste Periodikum der deutschen Literaturwissenschaft dar. Herausgeber Haupt bezeichnet „jede neue beobachtung“ als „willkommen“; zugleich soll die „betrachtung grammatischer dinge bis in das genaueste und feinste“ getrieben werden. [13] Der in Wien wirkende Franz Pfeiffer gab seit 1856 die „Zeitschrift für deutsche Altertumskunde“ Germania heraus, die im erklärten Gegensatz zur Textkritik der Lachmann-Schule keinen „Schwall ungenießbarer Lesarten“ bringen wollte, sondern die „schönsten mittelhochdeutschen Dichtungen in commentierten, mit allen zum Verständnis dienenden Mitteln versehenen Ausgaben“.

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