Figurale Schemata

Figurale Schemata: Figuren- oder personenbezogenen Regelmäßigkeitsannahmen.
Beispiele für figurale Schemata sind z.B. Annahmen wie „größere Mengen Alkohol zu trinken, macht betrunken“, „Menschen sind sterblich“ oder „Beim beamen löst man sich vorübergehend auf“. Diese ‚figuralen Schemata’ können auch komplexer sein, aber sie beschreiben keinen Typus, sondern bilden andere Informationszusammenhänge.
Insbesondere der Schluss vom sinnlich wahrnehmbaren Äußeren aufs Innere ist häufig durch solche figuralen Schemata geleitet. So wird ein Satz wie „er leugnete lautstark, konnte aber ihrem Blick nicht standhalten“ den Leser veranlassen, aus seinem psychologischen Wissen ein Schema etwa der Art abzurufen: Wer die Wahrheit sagt, kann dem anderen auch erhobenen Blickes in die Augen sehen - der Lügner aber häufig nicht. Ganz offensichtlich kann dieses Wissen auch auf bestimmte Formen fiktionaler Welten eingeschränkt sein, z.B. „Vampire sterben, wenn sie dem Sonnenlicht ausgesetzt werden“.
Textbeispiel:
Die Amme hatte Schuld. - Was half es, daß, als der erste Verdacht entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster zu unterdrücken? Was half es, daß sie außer dem nahrhaften Bier ein Glas Rotwein täglich verabreichte? Es stellte sich plötzlich heraus, daß dieses Mädchen sich herbeiließ, auch noch den Spiritus zu trinken, der für den Kochapparat verwendet werden sollte, und ehe Ersatz für sie eingetroffen war, ehe man sie hatte fortschicken können, war das Unglück geschehen. Als die Mutter und ihre drei halbwüchsigen Töchter eines Tages von einem Ausgange zurückkehrten, lag der kleine, etwa einen Monat alte Johannes, vom Wikkeltische gestürzt, mit einem entsetzlich leisen Wimmern am Boden, während die Amme stumpfsinnig daneben stand.
Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann
Erläuterung:
Die Informationen in diesem Abschnitt lassen sich ungefähr so zusammenfassen: Eine alkoholsüchtige Amme vernachlässigt im Rausch das ihr anvertraute Baby, sodass das Kind vom Wickeltisch stürzt. Tatsächlich aber sagt der Text sehr viel weniger und sagt es sehr viel komplizierter. Er beginnt mit einer scheinbaren klaren Feststellung: „Die Amme hatte Schuld.“ Die Feststellung ist nur scheinbar klar, weil bei einer Schuld üblicherweise festgestellt wird, um was für eine Schuld es sich handelt. Durch das Weglassen dieser Informationen wird eine Spannung erzeugt, und der Gedankenstrich nach diesem Satz lässt vermuten, dass das Nachfolgende diese beiden Ergänzungen auch nicht gleich nachliefert. Eine ähnliche Strategie verfolgt auch der nächste Satz: „Was half es, daß, als der erste Verdacht entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster zu unterdrücken?“ Auch hier werden mehr Fragen aufgeworfen als gelöst: Was für ein Verdacht, welches Laster und wem soll wobei geholfen werden? Dieses retardierende Moment wird im nächsten Satz teils weitergeführt, teils aufgehoben: „Was half es, daß sie außer dem nahrhaften Bier ein Glas Rotwein täglich verabreichte?“ Man könnte sagen: Eingeführt wird erstmals der Alkohol, aber an dieser Stelle ist noch keineswegs eindeutig, dass es sich dabei um die Antwort auf die Frage nach dem Laster oder der Schuld handelt, da das Adjektiv ‚nahrhaft’ ja erst einmal eine andere Fährte legt. Ob nun der ungenannte Alkohol das Gemeinsame von Bier und Rotwein ist oder Annahmen über die Nahrhaftigkeit der beiden Getränke ist noch nicht ganz klar, wenn auch das Suchmuster ‚Laster’, das vorher aufgerufen wurde, den Modell-Leser wohl bereits in eine Richtung neigen lässt.
Nun wird der Leser aber informiert, daß das Mädchen von sich aus Kochspiritus trinkt. An dieser Stelle ist der Anschluss besonders wichtig: „und ehe Ersatz für sie eingetroffen war, ehe man sie hatte fortschicken können, war das Unglück geschehen.“ Etwas vereinfacht formuliert: Die Amme trank Kochspiritus, und das Unglück war geschehen. Nur als Text, als Reihe von Worten betrachtet, ist das eine ziemlich erstaunliche Koppelung. Wir nehmen sie aber nicht als erstaunlich war, weil wir sofort eine Reihe von figuralen Schemata heranziehen: Wenn Menschen Spiritus trinken, dann wird der darin befindliche Alkohol wirksam; sie werden unachtsam, aggressiv usw. Tatsächlich muss die erste Hälfte des Satzes lauten: ‚Die Amme trank Bier, Wein und sogar Kochspiritus’. Ausgehend von der Information, dass Alkohol gewohnheitsbildend ist, wird man dies so umformulieren: Nicht weil sie einmal etwas getrunken hat, sondern weil sie eine Trinkerin war und deshalb oft unter der Wirkung von Alkohol stand, ist das Unglück geschehen. Die Metamorphose der einfachen Feststellungen in eine Kausalkette und die Verwandlung des ‚und’ in ein ‚deshalb’ sind erstaunlich genug. Eine vereinfachende Paraphrase des Abschnitts muss, um die kausalen Zusammenhänge zu explizieren, zahlreiche Informationen verwenden, die eben nicht im Text stehen, z.B. das Gemeinsame von Bier, Rotwein und Kochspiritus oder die Wirkung von Alkohol auf Menschen, und zeigt damit die kommunikative Mächtigkeit der abgerufenen Wissensbestände, der figuralen Schemata und des Figurenmodells ‚trinksüchtige Bedienstete’.
Fragestellung:
Lesen Sie den Text und beschreiben Sie, welches Schema hier durch das Verhalten des Kunstsammlers aufgerufen wird.
Textbeispiel:
„Nina Donner“, meldete sie sich.
„Endlich!“ sagte er.
„Mr. Larsen ...“
„Wann?“ fragte er hektisch.
Die Art, wie er das Gespräch führte, zeigte ihr einmal mehr, wie besessen er als Kunstsammler war. Er vergaß alles andere, jede Vorsicht.
Jerry Cotton: Die Venus und das Superding
Ihre Formulierung:
Dem Sammler wird die Information zugeschrieben, hektisch zu sein, als er die Frage stellt. ‚Hektik’ ist ein lebensweltliches Signal für Dringlichkeit, und auch die Tatsache, dass er die Anruferin nicht begrüßt, unterstreicht die Dringlichkeit ebenso wie der Inhalt seiner Frage. Der Leser wird hier nicht lange im Unklaren gelassen, sondern gleich über den Grund dieses Zustands informiert: Er ist ein besessener Kunstsammler. Dass das Phänomen als Zeichen gelesen werden kann, erfährt man über die Wahrnehmung der Frau. („Die Art, wie er das Gespräch führte, zeigte ihr einmal mehr,“). Was mit der Besessenheit des Kunstsammlers verknüpft werden soll, steht in diesem Fall sogar ganz explizit im Text: „Er vergaß alles andere, jede Vorsicht“. Das figurale Schema lautet hier also: Wer von etwas besessen ist, kann nicht lange warten bis er es bekommt und stellt dafür alles andere hinten an.

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