Textbeispiel:
Die Amme hatte Schuld. - Was half es, daß, als der erste Verdacht entstand, Frau Konsul
Friedemann ihr ernstlich zuredete, solches Laster zu unterdrücken? Was half es, daß
sie außer dem nahrhaften Bier ein Glas Rotwein täglich verabreichte? Es stellte sich
plötzlich heraus, daß dieses Mädchen sich herbeiließ, auch noch den Spiritus zu trinken,
der für den Kochapparat verwendet werden sollte, und ehe Ersatz für sie eingetroffen
war, ehe man sie hatte fortschicken können, war das Unglück geschehen. Als die Mutter
und ihre drei halbwüchsigen Töchter eines Tages von einem Ausgange zurückkehrten,
lag der kleine, etwa einen Monat alte Johannes, vom Wikkeltische gestürzt, mit einem
entsetzlich leisen Wimmern am Boden, während die Amme stumpfsinnig daneben stand.
Thomas Mann: Der kleine Herr Friedemann
Erläuterung:
Die Informationen in diesem Abschnitt lassen sich ungefähr so zusammenfassen: Eine
alkoholsüchtige Amme vernachlässigt im Rausch das ihr anvertraute Baby, sodass das
Kind vom Wickeltisch stürzt. Tatsächlich aber sagt der Text sehr viel weniger und
sagt es sehr viel komplizierter. Er beginnt mit einer scheinbaren klaren Feststellung:
„Die Amme hatte Schuld.“ Die Feststellung ist nur scheinbar klar, weil bei einer Schuld
üblicherweise festgestellt wird, um was für eine Schuld es sich handelt. Durch das
Weglassen dieser Informationen wird eine Spannung erzeugt, und der Gedankenstrich
nach diesem Satz lässt vermuten, dass das Nachfolgende diese beiden Ergänzungen auch
nicht gleich nachliefert. Eine ähnliche Strategie verfolgt auch der nächste Satz:
„Was half es, daß, als der erste Verdacht entstand, Frau Konsul Friedemann ihr ernstlich
zuredete, solches Laster zu unterdrücken?“ Auch hier werden mehr Fragen aufgeworfen
als gelöst: Was für ein Verdacht, welches Laster und wem soll wobei geholfen werden?
Dieses retardierende Moment wird im nächsten Satz teils weitergeführt, teils aufgehoben:
„Was half es, daß sie außer dem nahrhaften Bier ein Glas Rotwein täglich verabreichte?“
Man könnte sagen: Eingeführt wird erstmals der Alkohol, aber an dieser Stelle ist
noch keineswegs eindeutig, dass es sich dabei um die Antwort auf die Frage nach dem
Laster oder der Schuld handelt, da das Adjektiv ‚nahrhaft’ ja erst einmal eine andere
Fährte legt. Ob nun der ungenannte Alkohol das Gemeinsame von Bier und Rotwein ist
oder Annahmen über die Nahrhaftigkeit der beiden Getränke ist noch nicht ganz klar,
wenn auch das Suchmuster ‚Laster’, das vorher aufgerufen wurde, den Modell-Leser wohl
bereits in eine Richtung neigen lässt.
Nun wird der Leser aber informiert, daß das Mädchen von sich aus Kochspiritus trinkt.
An dieser Stelle ist der Anschluss besonders wichtig: „und ehe Ersatz für sie eingetroffen war, ehe man sie hatte fortschicken können, war das
Unglück geschehen.“ Etwas vereinfacht formuliert: Die Amme trank Kochspiritus, und das Unglück war geschehen. Nur als Text, als Reihe von Worten betrachtet, ist das
eine ziemlich erstaunliche Koppelung. Wir nehmen sie aber nicht als erstaunlich war,
weil wir sofort eine Reihe von figuralen Schemata heranziehen: Wenn Menschen Spiritus
trinken, dann wird der darin befindliche Alkohol wirksam; sie werden unachtsam, aggressiv
usw. Tatsächlich muss die erste Hälfte des Satzes lauten: ‚Die Amme trank Bier, Wein
und sogar Kochspiritus’. Ausgehend von der Information, dass Alkohol gewohnheitsbildend
ist, wird man dies so umformulieren: Nicht weil sie einmal etwas getrunken hat, sondern
weil sie eine Trinkerin war und deshalb oft unter der Wirkung von Alkohol stand, ist
das Unglück geschehen. Die Metamorphose der einfachen Feststellungen in eine Kausalkette
und die Verwandlung des ‚und’ in ein ‚deshalb’ sind erstaunlich genug. Eine vereinfachende
Paraphrase des Abschnitts muss, um die kausalen Zusammenhänge zu explizieren, zahlreiche
Informationen verwenden, die eben nicht im Text stehen, z.B. das Gemeinsame von Bier,
Rotwein und Kochspiritus oder die Wirkung von Alkohol auf Menschen, und zeigt damit
die kommunikative Mächtigkeit der abgerufenen Wissensbestände, der figuralen Schemata
und des Figurenmodells ‚trinksüchtige Bedienstete’.