Figur

Figur: Mentales Modell eines Menschen oder einer menschenähnlichen Gestalt in einer erzählten Welt. Wird vom Leser aufgebaut, indem er Informationen aus dem Discours um Weltwissen ergänzt.
Figuren spielen in Erzähltexten eine zentrale Rolle. Oftmals identifizieren sich Leser mit ihnen oder sprechen über sie, als wären sie lebende Menschen. Auch Interpretationen von Erzähltexten beziehen sich oft sehr plausibel auf epochen- oder auch autorenspezifische anthropologische und psychologische Konzepte (z.B. auf die Melancholie für Hamlet oder Werther, oder den Typus der nervösen Frau für die Frauenfiguren von Fontane). Das Grundproblem für die Analyse von Erzähltexten ist dabei die Tatsache, dass Texte Figuren nur mittels Worten beschreiben und dass diese Beschreibungen auch bei noch so großer Detailfülle lückenhaft sind. Sich mit Figuren so zu beschäftigen, als hätten diese irgendetwas mit Personen zu tun, galt und gilt vielen daher als naiv.
Leblose Textmerkmale oder reale Person - dieses Dilemma lässt sich durch die Unterscheidung von Discours und Histoire lösen. Im Discours werden Figureninformationen gegeben, aus denen der Leser mentale Modelle bildet, die dann die erzählte Welt bevölkern. Bei der Erzeugung des mentalen Modells der Figur werden die sprachlichen Informationen um Personenkonzepte und kulturelles Wissen ergänzt.[1]
Figur = Informationen aus dem Discours + Wissen über Personen und kulturelle Gegebenheiten aus dem realen Leben
Textbeispiel:
Der Schneider, als er so ganz einsam in seinem Hause saß, verfiel in große Traurigkeit, und hätte seine Söhne gerne wieder gehabt, aber niemand wußte wo sie hingeraten waren. Der älteste war zu einem Schreiner in die Lehre gegangen, da lernte er fleißig und unverdrossen, und als seine Zeit herum war, daß er wandern sollte, schenkte ihm der Meister ein Tischchen, das gar kein besonderes Ansehen hatte, und von gewöhnlichem Holz war, aber es hatte eine gute Eigenschaft. [...] Der junge Gesell dachte „damit hast du genug für dein Lebtag“, zog guter Dinge in der Welt umher, und bekümmerte sich gar nicht darum ob ein Wirtshaus gut oder schlecht und ob etwas darin zu finden war oder nicht. [...] Endlich kam es ihm in den Sinn, er wollte zu seinem Vater zurückkehren, sein Zorn würde sich gelegt haben, und mit dem Tischchen deck dich würde er ihn gerne wieder aufnehmen. Es trug sich zu, daß er auf dem Heimweg Abends in ein Wirtshaus kam, das mit Gästen angefüllt war; sie hießen ihn willkommen, und luden ihn ein sich zu ihnen zu setzen und mit ihnen zu essen, sonst würde er schwerlich noch etwas bekommen. „Nein“, antwortete der Schreiner, „die paar Bissen will ich euch nicht von dem Munde nehmen, lieber sollt ihr meine Gäste sein.“
Jakob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen
Erläuterung:
Ginge man in diesem Text nur von den Bezeichnungen für Figuren im Discours aus, dann müsste man annehmen, dass der ‚Schreiner’, der zuerst genannt wird, und der zweitgenannte ‚Schreiner’ identisch sind.
Gleich mehrere Gründe sprechen aber gegen eine solche Verwechslung. Zum einen der Wechsel des
contextual frames
Contextual Frames
Begriff von Catherine Emmott (Catherine Emmott 1997, S. 132). Bezeichnet eine Sinnstruktur, die durch eine örtliche (wer und was ist an diesem Ort anwesend?), eine zeitliche und durch eine relativ freie episodische Komponente (was ist an dem Ort geschehen) gebildet wird. Dieses Geschehen kann wiederum durch typische Handlungsabläufe (scripts), z.B. Restaurantbesuch, und zusammengehörige Informationssets (frames), z.B. Wirtshaus, organisiert sein, und in nicht-situativem Text wird u.a. Information solcher Art präsentiert.
. Der Schreiner, bei dem der älteste Sohn zur Lehre ging, ist nur in den ersten Rahmen gebunden. Zwischen den beiden situativen Rahmen befindet sich nicht-situativer Text, der den ältesten Sohn fokussiert. In den zweiten situativen Rahmen, das Wirtshaus, sind anfangs wiederum nur zwei Figuren gebunden, nämlich die Kollektivfigur ‚Gäste’ und ‚er’, der dann ‚der Schreiner’ genannt wird. Da bis dahin der älteste Sohn fokussiert wurde, ist es naheliegend, dass dies im Zweifelsfall weiterhin geschieht.
Auch das Skript-Wissen des Modell-Lesers spricht dafür. Da die Gäste gerade ihre Essenseinladung geäußert haben, ist es naheliegend, dass nach den Regeln des verschriftlichten Dialogs nun die Antwort der einzig sonst vorhandenen Figur folgt, also des ältesten Sohns. Das sprachliche Signal des bestimmten Artikels ‚der Schreiner’ legt auch nahe, dass an dieser Stelle keine neue Figur eingeführt wird.
Eine Verwechslung ist außerdem unwahrscheinlich weil die Figur, die als ‚der älteste’ eingeführt und zwischendurch auch als ‚Gesell’ bezeichnet wurde, nun als ‚Schreiner’ angesprochen werden kann, d.h. es gibt zwei Schreiner in der erzählten Welt. Allerdings muss der Leser dazu wissen, dass die Formulierung ‚in die Lehre gehen’ eine spezifische Form der Ausbildung in Handwerksberufen bezeichnet und mit dem Zeitpunkt ‚als seine Zeit herum war, daß er wandern sollte’ ein formaler Abschluss dieser Ausbildung erreicht ist, die den Auszubildenden zum Gesellen, in diesem Fall zum Schreinergesellen macht. Die Verwechslung zwischen den beiden als ‚Schreiner’ bezeichneten Figuren ist also unwahrscheinlich, weil gleiche mehrere unabhängige Indizien eine schnelle Identifizierung der Referenz ermöglichen.
Schon an diesem relativ einfachen Märchen zeigt sich, dass vom Modell-Leser nicht nur verlangt wird, die Figuren einfach zu unterscheiden, sondern auch die Merkmale der Figur zu erinnern und bei Bedarf zusammen mit seinem Weltwissen, im Beispiel das über typisierte Handlungsabläufe (Dialog, Lehre), zu Schlussfolgerungen zu nutzen.
Erst der Ergänzungsprozess macht die Figurencharakterisierung aus und er wird im Folgenden deshalb analytisch von der Registrierung von Figureninformationen getrennt, obwohl die beiden Prozesse beim normalen Lesen wohl kaum zu trennen sind.
Figureninformationen im Discours
Entstehung figurenbezogener Tatsachen in der erzählten Welt
Tatsachen, die zur Charakterisierung einer Figur in der erzählten Welt beitragen

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Figur
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[1] Eine gängige Herangehensweise an Figuren in der bisherigen Forschung ist ihre Untersuchung als Funktionsträger für eine Handlung (auch als ‚Aktanten’ bezeichnet). So erhellend diese handlungsfunktionale Analyse insbesondere für Schemaliteratur sein kann, so wenig trägt sie zum Verständnis der jeweils konkreten Figur bei. D.h. wir haben ohne Zweifel etwas Wichtiges verstanden, wenn wir die funktionale Ähnlichkeit zwischen dem bösen Zauberer eines Märchens und Dr. No in Ian Flemings James-Bond-Roman erkannt haben, aber man kann mit diesem Instrumentarium noch nicht erkennen, wie die konkrete Figur ihre funktionale Rolle ausfüllt und auch nicht solche Aspekte einer Figur beschreiben, die sich nicht auf die Handlungsfunktion zurückführen lassen. Diese Konzepte werden daher unter Handlungsgrammatiken beschrieben. Zurück