Apostrophe

griech.: Ab-Wendung
Apostrophe: Gedankenfigur: (scheinbare) Abwendung (des Sprechers) vom ursprünglichen Publikum und Hinwendung zu einem (ggf. fiktiven) Zweitpublikum
Die Apostrophe ist eine Form der aversio (Änderung der Perspektive des Redevorgangs hinsichtlich der drei Bestandteile der Redesituation: Redner, Redegegenstand oder Publikum), da hier das Publikum gewechselt wird, also – für eine Weile – der Text auf einen anderen Adressaten bezogen wird. (Die Abweichung vom ursprünglichen Regegegenstand oder Thema heißt in rhetorischer Terminologie digressio, Digression; die Abweichung vom Redner, also der Wechsel der Redner- oder Sprecherrolle heißt sermocinatio.)
Meist als Ausruf oder rhetorische Frage formuliert, ist die Apostrophe in der Regel ein Stilmittel emphatischer oder pathetischer Rede. Die Apostrophe hinterlässt den Eindruck, der Redner sei stark erregt. So kann sie der Beeinflussung des Publikums dienen.
So kann es eine überraschende Hinwendung des Redners bzw. Erzählers zu anderen als den bisher Angeredeten, auch zu abwesenden Personen oder Toten (z. B. in Totenklagen), unbelebten Dingen (z. B. Waffen im Rolandslied) oder Personifikationen (z. B. Frau Minne in mittelalterlicher Dichtung), ferner die Selbstanrede des Sprechers sein.
Die Anrufung von Göttern oder Musen – etwa zu Beginn der homerischen Epen – ist ein antiker Gemeinplatz. Im neuzeitlichen Drama oder Roman dient die Hinwendung zum Publikum oft als desillusionierender Verfremdungseffekt (z.B. im epischen Theater Brechts).
Erläuterung:
Ein Standardfall der
Apostrophe
Apostrophe
Gedankenfigur: (scheinbare) Abwendung (des Sprechers) vom ursprünglichen Publikum und Hinwendung zu einem (ggf. fiktiven) Zweitpublikum
ist die topische Musenanrufung antiker Epik, da hier der Sänger-Erzähler sich von seinem Publikum ab und einer göttlichen Instanz zuwendet:
Textbeispiel:
Besinge mir, Gottheit, den Zorn des Peliden Achilleus!
Homer: Ilias
Erläuterung:
In ähnlicher Weise kann eine Dramenfigur, hier Antigone, sich von ihren Gesprächspartnern abwenden und die göttlich personifizierte (vgl.
Personifikation
Personifikation
Darstellung von etwas Abstraktem oder Allgemeinem als Mensch bzw. Person
) Stadt Theben anrufen:
Textbeispiel:
O du Stadt der Väter im Lande Theben
und ihr Götter vor uns,
getrieben werde ich und zögere nicht mehr [...]
Sophokles: Antigone
Erläuterung:
In ähnlicher Weise spricht Goethes Egmont – alleine im Gefängnis und im Gespräch mit sich selbst – den personifizierten Schlaf an und fordert sein Erscheinen:
Textbeispiel:
Alter Freund! Immer getreuer Schlaf! Fliehst du mich auch, wie die übrigen Freunde? Wie willig senktest du dich sonst auf mein freies Haupt herunter und kühltest, wie ein schöner Myrtenkranz der Liebe, meine Schläfe!
Johann Wolfgang von Goethe: Egmont
Erläuterung:
Und so kann sich natürlich auch der Dichter bzw. das lyrische Ich eines Gedichts einem Adressaten zuwenden, der nicht physisch anwesend ist – wie es z.B. Milton tut, wenn er die ‘göttliche Melancholie’ anspricht:
Textbeispiel:
But hail thou Goddess sage and holy,
Hail divinest Melancholy,
Whose saintly visage is too bright
To hit the sense of human sight,
And therefore to our weaker view
O’erlaid with black, staid Wisdom’s hue;
John Milton: Il Penseroso
Erläuterung:
Als Apostrophe kann – im rhetorischen Sinne – natürlich auch gelten, wenn der typisch auktoriale Erzähler eines erzählenden Textes den (fiktiven) Leser seiner Geschichte explizit anspricht:
Textbeispiel:
Ich bitte die Leser hier, den Geist der Sanftmut jedem Laute – weil unsere Worte mehr als unsere Taten die Menschen erzürnen –, aber mehr noch jedem Blatte einzublasen.
Jean Paul: Siebenkäs

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