Erläuterung:
Ein Standardfall der
Apostrophe
Apostrophe
Gedankenfigur: (scheinbare) Abwendung (des Sprechers) vom ursprünglichen Publikum
und Hinwendung zu einem (ggf. fiktiven) Zweitpublikum
ist die topische Musenanrufung antiker Epik, da hier der Sänger-Erzähler sich von
seinem Publikum ab und einer göttlichen Instanz zuwendet:
Textbeispiel:
Besinge mir, Gottheit, den Zorn des Peliden Achilleus!
Homer: Ilias
Erläuterung:
In ähnlicher Weise kann eine Dramenfigur, hier Antigone, sich von ihren Gesprächspartnern
abwenden und die göttlich personifizierte (vgl.
Personifikation
Personifikation
Darstellung von etwas Abstraktem oder Allgemeinem als Mensch bzw. Person
) Stadt Theben anrufen:
Textbeispiel:
O du Stadt der Väter im Lande Theben
und ihr Götter vor uns,
getrieben werde ich und zögere nicht mehr [...]
Sophokles: Antigone
Erläuterung:
In ähnlicher Weise spricht Goethes Egmont – alleine im Gefängnis und im Gespräch mit
sich selbst – den personifizierten Schlaf an und fordert sein Erscheinen:
Textbeispiel:
Alter Freund! Immer getreuer Schlaf! Fliehst du mich auch, wie die übrigen Freunde?
Wie willig senktest du dich sonst auf mein freies Haupt herunter und kühltest, wie
ein schöner Myrtenkranz der Liebe, meine Schläfe!
Johann Wolfgang von Goethe: Egmont
Erläuterung:
Und so kann sich natürlich auch der Dichter bzw. das lyrische Ich eines Gedichts einem
Adressaten zuwenden, der nicht physisch anwesend ist – wie es z.B. Milton tut, wenn
er die ‘göttliche Melancholie’ anspricht:
Textbeispiel:
But hail thou Goddess sage and holy,
Hail divinest Melancholy,
Whose saintly visage is too bright
To hit the sense of human sight,
And therefore to our weaker view
O’erlaid with black, staid Wisdom’s hue;
John Milton: Il Penseroso
Erläuterung:
Als Apostrophe kann – im rhetorischen Sinne – natürlich auch gelten, wenn der typisch
auktoriale Erzähler eines erzählenden Textes den (fiktiven) Leser seiner Geschichte
explizit anspricht:
Textbeispiel:
Ich bitte die Leser hier, den Geist der Sanftmut jedem Laute – weil unsere Worte mehr
als unsere Taten die Menschen erzürnen –, aber mehr noch jedem Blatte einzublasen.
Jean Paul: Siebenkäs